Zweite Haut auf Zeit Räubersachen reduziert Kleiderberge, die durch schnelles Kinderwachstum entstehen. In dem 2015 gegründeten Online-Shop kann man ökologisch hergestellte Hosen, Bodies & Co. bestellen und genau solange behalten, wie sie dem Nachwuchs passen.
Eigentlich schade, dass wir uns nicht an unsere Zeit in der Gebärmutter erinnern können. Alle Bedürfnisse, die uns postnatal unerbittlich umtreiben, werden hier bedingungslos befriedigt. Schwerelos schwebend in angenehm temperiertem Wasser umhüllt uns weiches Gewebe, das jeden Stoß abschwächt. Wenn wir dann dieses Spa aus Membran und Wasser verlassen müssen, ist der Schock groß.
Die neue Welt, in die wir geworfen werden, verlangt uns einiges ab: Wir müssen alles neu lernen – und das alles in einer Umgebung, der nur mit der passenden Hülle beizukommen ist. Darüber, was passend ist, scheiden sich da draußen die Geister. Freunde und Familie geben Babykleidung gern weiter – Brauchst du noch was fürs Baby? – und lassen es sich erst recht nicht nehmen, Neuware zu schenken. Doch was gut gemeint ist, trifft oft nicht den elterlichen Geschmack – das Kind wird anfangs ja noch selten gefragt – und so werden ganze Garnituren neuer und gebrauchter Babyklamotten in Schubladen und Schränke geräumt. Am Ende benutzt man sie gar nicht und gibt sie schließlich wieder weiter: Brauchst du noch was fürs Baby? Ein Muster, das sich wiederholt, solange das Kind (heraus-)wächst.
Astrid Bredereck, Künstlerin und Mutter zweier Söhne im Alter von 15 und drei Jahren, lehnte immer dankend ab, wenn ihr mal wieder ein Bärchenstrampler vom Discounter angeboten wurde. Lieber klapperte sie die Flohmärkte und Secondhand-Läden ihres sachsen-anhaltinischen Wohnorts Halle nach passender ökologischer Kleidung für ihren Nachwuchs ab. Doch auch hier: spärliche Auswahl zu immer noch hohen Preisen für Bioqualität. In einer ruhigen Minute beim Abendbrot kam ihr irgendwann die zündende Idee: Warum nicht die zweite Haut vermieten, in bester Qualität und nur solange sie gebraucht wird?
Auf der Suche nach ähnlichen Geschäftsmodellen stieß Bredereck auf den Kinderkleiderverleih Kilenda. Er wurde ihr Ansporn und Abgrenzungsmodell zugleich, denn Kilenda behauptet zwar auch, Kleiderberge reduzieren zu wollen, lockt aber mit immer neuen Kollektionen und folgt damit letztlich auch dem Fashion-Imperativ der saisonalen Erneuerung. „Dagegen verweigere ich mich“, erklärt Bredereck bestimmt: „Ich will der Welt nichts hinzufügen, was nicht wirklich gebraucht wird.“
Mit der einfachen Idee, ökologische Kinderkleidung auf Zeit zugänglich zu machen, stürzte Bredereck sich „ein bisschen naiv“, wie sie heute sagt, in die Arbeit. Nicht mit dem Ziel, Unternehmerin zu werden, sondern mit der Frage: „Wie kann ich andere Lösungen finden, und wie fühlt es sich für mich stimmig und ehrlich an?“ Im Mai 2015 startete sie dann schließlich ihre Antwort auf die unnötigen Kleiderberge: die Website rauebersachen.de.
Hier können sich Eltern, Verwandte und Freunde Kleidung für Babys und kleinere Kinder aussuchen, bestellen und behalten, solange sie passen. Die Stücke sind etwas für jeden Tag, aus ökologisch angebauter Wolle, Seide und Baumwolle, schlicht im Design – einfarbig in kräftigen Tönen oder geringelt –, anschmiegsam und sanft zu Kinderhaut. Die Kleidung kommt von fairen Ökoproduzenten wie Cosilana und Waldviertler, aber auch kleinen handwerklichen Betrieben wie Mary Mae und LenaLieb. Wer trotz der genauen Produktbeschreibungen noch unschlüssig oder ganz einfach unbedarft ist, kann sich telefonisch von der Geschäftsgründerin beraten lassen.
Die schließlich ausgewählten Strampler, Pullover, Schuhe und Häubchen kommen in kleinen wiederverwendeten Pappkartons, ressourcenschonend ohne unnötigen Schnickschnack, dafür mit beigelegtem Biowaschmittel, Gebrauchsanweisung und einem kleinen Geschenk für die Eltern. Einmal im Monat erhalten Kundinnen und Kunden eine Mail, die sie über alle geliehenen Stücke auf dem Laufenden hält. Und wenn das Kind nicht so schnell gewachsen ist, wie erwartet, können die Räubersachen auch noch länger genutzt und sogar behalten werden, sobald der Kaufpreis erreicht ist.
Bezahlt wird monatsweise. Dabei bemisst sich die Miete nach dem Zustand des jeweiligen Stücks: neu, sehr gut, gut und (geflickte) Räubersachen. Die unterschiedlichen Preiskategorien sind nicht nur gut für schmale Geldbeutel, sondern gehören für Astrid Bredereck zum Konzept: „Mir ist wichtig, dass die Eltern nicht ständig in Habachthaltung sein müssen. Dass Kinder auch mal irgendwo hängen bleiben oder ein Loch in die neue Hose reißen, gehört einfach dazu.“ Ihr kleiner Sohn sei das beste Beispiel dafür, lacht sie.
Auch beschädigte Leihstücke werden zurückgenommen – wenn sie nicht mutwillig oder durch zu heißes Waschen ruiniert wurden – und wieder hergerichtet. Und das, obwohl die Reparaturen sich wirtschaftlich kaum rentieren. Das Flicken von Laufmaschen und Löchern ist liebevolle Handarbeit und die ist teuer. Um trotzdem nicht auf die Räubersachen verzichten zu müssen und jedes Stück solange wie möglich im Mietkreislauf zu behalten, plant Bredereck über Crowdfunding einen Fond für die Ausbesserungen einzurichten.
Beim Klicken durch den Online-Shop fällt auf, dass einige Teile schon ziemlich ausgeräubert, also in einigen Größen oder Preiskategorien nicht mehr zu haben sind. Ein Mangel, dem die Gründerin mit Gelassenheit begegnet: „Was nicht mehr da ist, ist eben im Moment nicht mehr da.“
Es geht Astrid Bredereck nicht um das schnelle Geld, sondern um einen funktionierenden Handel und transparente Strukturen. Deshalb war sie bis vor kurzem auch ihre einzige Mitarbeiterin. Nur quasi ehrenamtlich unterstützt von ihrem Freund und ihrer Mutter erledigte sie sowohl den aufwändigen Versand der Online-Bestellungen als auch die Kundenkommunikation.
Doch schon kurz nach dem Launch der Website konnte sie sich vor Anfragen kaum retten, „und das, obwohl wir gar keine Werbung gemacht haben“, staunt sie bis heute. Schnell war das kleine Unternehmen völlig überlastet, und Bredereck musste einsehen, dass das Geschäft im Alleingang nicht zu bewältigen war. Sie investierte in eine neue Software, um die Abwicklung von Bestellungen und Versand in den Griff zu bekommen, und beschäftigt mittlerweile vier freiberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zuständig für IT, Wäsche und Reparaturen.
Eine Entwicklung, die Bredereck nur bedingt begrüßt. Sie möchte gar nicht, dass Räubersachen richtig groß wird. Denn wenn sie anfangen müsste, Aufgaben in großem Stil zu delegieren oder gar auszulagern, könnte sie kaum noch transparente Arbeitsprozesse gewährleisten. Ihre sorgsame Kundenbetreuung würde einem Streben nach Effizienz weichen. Mehr als um Profit geht es Bredereck aber darum, nach ökologischen Idealen zu leben und zu handeln. Worin sie sich selbst gerade übt, nämlich „Grenzen wahrzunehmen und zu akzeptieren“, überträgt sie auch auf ihr Geschäft. Und das muss auch bedeuten, dass das Wachstum von Räubersachen nur endlich sein kann – genau wie das Wachstum der Kinder. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 11.08.2016