Wolken aus Polyethylen Welcher Stoff ist vollständig recyclingfähig, atmungsaktiv, antiallergen und kleidsam noch dazu? Tyvek! Dem Material mit den erstaunlichen Eigenschaften hat sich das Hallenser Label Luxaa verschrieben.
Dicke Schafswolle, kratziger Filz und muffig riechende Felle bedeckten Jahrtausende lang die Körper der Europäer. Die der Europäerinnen ebenso. Seide und anderer feiner Zwirn mussten erst im fernen Morgenland entdeckt werden und waren für Normalsterbliche hoffnungslos unerschwinglich. Noch in den 1950er-Jahren stellten Naturfasern die Hauptrohstoffe der Bekleidungsindustrie. Dann kam mit synthetischen Stoffen wie Nylon, Perlon oder Polyester der materielle Umbruch. Alles war nun knallig bunt, in jeder Dicke und Textur zu haben, pflegeleicht und spottbillig in der Produktion.
Ein halbes Jahrhundert später ist die Mode heute kurzlebiger denn je. Mindestens halbjährlich werden die Schaufenster mit schnell produzierten Kollektionen gefüllt. Der einkalkulierte Überschuss wird dann in Schlussverkäufen und Mid-Season Sales hektisch abgestoßen. Mit dem Ergebnis, dass wir einkaufen, bis der Schrank platzt und immer wieder Raum für den Klamottennachschub schaffen müssen. Jede Saison landen so Tonnen von Kleidungsstücken in Altkleidersammlungen oder werden einfach zu Müll. Nur ein geringer Anteil wird wiederverwertet oder weitergegeben.
Nachhaltigkeit und Langlebigkeit sind genau die entgegengesetzten Prinzipien dieses Systems; sie kommen heute im Geschäft mit Kleidung und Accessoires quasi nicht vor. Auch für Modedesigner sind sie keine relevanten Parameter. Designer kennen nur zwei Jahreszeiten, und die sind – wie in einem Paralleluniversum – zeitlich versetzt. Der Körper einer Designerin mag in dicke Wolle eingepackt sein, während in ihrem Kopf der nächste Bikini entsteht. Dabei ist die Zeit für den Entwurf denkbar kurz. „Man überholt sich permanent selbst“, beschreibt Anne Trautwein, Gründerin von Luxaa – Material Vision into Fashion ihr Schaffen. Deshalb wollte sie eigentlich nie ein Modelabel gründen.
Dass sie es dann doch getan hat, hat sie Tyvek zu verdanken. Die Kunstfaser aus Polyethylen entdeckte Trautwein während ihres Designstudiums an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. 1959 von DuPont entwickelt, findet Tyvek seine Bestimmung bisher hauptsächlich im medizinischen Bereich und im Baugewerbe. Zu unrecht, fand Trautwein, denn Tyvek ist ein ganz besonderes Stück Stoff: umweltverträglich, weil schonend produzierbar; funktional, weil atmungsaktiv; antiallergen und bei 90 Grad waschbar; nachhaltig, weil resistent gegen Fusselbildung und Verfilzen. Nicht zuletzt kann Tyvek vollständig recycelt werden. Damit schlägt das Material nicht nur viele andere Kunstfasern, aus denen laut Trautwein momentan rund 80 Prozent aller verkauften Textilien bestehen, sondern auch pflanzliche Erzeugnisse wie Baumwolle, die zwar natürlichen Ursprungs sind, aber mit unzähligen chemischen Substanzen behandelt und belastet werden.
Für ihre Diplomarbeit begann Trautwein, die erstaunlichen Eigenschaften von Tyvek zu erforschen und mit dem Material zu experimentieren. Ihre Aufgabe als Designerin hätte sie darüber fast vergessen. Und die Kollektion, die sie am Ende doch noch vorstellte, war nie für den Verkauf geplant: „Ich dachte, die hänge ich dann in den Keller und mache was anderes“, erzählt Trautwein. Doch die Fusion aus intensiver Materialkunde und schlichtem Design kam so gut an, dass der jungen Absolventin von verschiedenen Seiten nahegelegt wurde, den Tyvek-Faden weiterzuspinnen. Schließlich reichte sie die Kollektion beim Innovationspreis des Gesamtverbands textil+mode ein, belegte den zweiten Platz und bekam ein Stipendium für die Firmengründung.
Heute hat Luxaa zwei Mitarbeiterinnen: Anne Trautwein entwirft, Anja Schneemann ist für das Management zuständig. Die bescheidenen Räumlichkeiten des Zwei-Frauen-Unternehmens befinden sich im sogenannten Designhaus auf dem Gelände der Kunsthochschule in Halle. Der Vorraum des Büros ist gleichzeitig der Showroom. In der Ecke neben der Tür hängt – einer bunten Wolke ähnlich – die jüngste Luxaa-Kollektion. Die klaren, schlichten Schnitte der Modelle werden durch die locker-luftige Stofflichkeit von Tyvek in weiß oder Pastellfarben kontrastiert. Das Material überrascht beim Anfassen: Es ist weich, raschelt ein bisschen und erinnert in seiner Struktur an handgeschöpftes Papier. Die glatte Ausgangsmembran der Kunstfaser wird entweder direkt verarbeitet oder in dünne Streifen geschnitten, die dann als Garn verstrickt werden. Als „clean chique“ bezeichnet Trautwein den Look, der sich auch durch das Corporate Design des Labels zieht.
Nach außen präsentiert sich das Unternehmen stringent und äußerst professionell. Hinter den Kulissen aber zeigt sich Luxaa als Projekt, das noch im Entstehen ist, und als Abenteuer, in das sich Trautwein und Schneemann kopfüber – aber nicht kopflos – gestürzt haben. Während Schneemann für die richtige Bodenhaftung sorgt, träumt Trautwein schon mal von einem Forschungsprojekt zur Optimierung der Färbungsprozesse von Tyvek. Auch dass ihr Lieblingsmaterial irgendwann im Produktdesign zum Einsatz kommen könnte, malt sie sich aus.
Ihre Arbeit versteht Trautwein als Materialkunde. Sie ist daher auch ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten für die Verwendung natürlicher und funktionaler Stoffe. Neben Tyvek verarbeitet Luxaa bisher Holz (für Gürtel), Sand (in Formen gegossen als Schmuck) und Seide (für Bekleidung). Alles wird fair und regional in mitteldeutschen Traditionsunternehmen hergestellt, ressourcenschonend produziert und nach bekannten Standards zertifiziert.
Dahinter steht keine besondere Sozialisation und auch keine Mission, die Welt zu verbessern. Die Richtung ergab sich für die beiden Unternehmerinnen aus „gesundem Menschenverstand“ und bestimmten „ethischen Vorstellungen“ heraus wie von selbst – und ohne Rücksicht auf (eigene) Verluste. Denn natürlich ist das faire Produzieren teurer, und die Gründerinnen schwimmen noch lange nicht im Geld. Aber es ergibt schlicht Sinn, Seide fair herstellen zu lassen, die Textilindustrie vor Ort zu unterstützen und auf umweltschonende Produktion zu achten.
Bei allem guten Willen: Dem Diktum der zwei Kollektionen pro Jahr müssen sich auch die beiden Luxaa-Frauen unterwerfen. Allerdings schaffen sie das ohne Überproduktion, denn Luxaa stellt die einzelnen Modelle nur in kleiner Anzahl her, und die aufwändigeren Stücke, wie das Tyvek-Hochzeitskleid, sind nur auf Nachfrage zu haben. Die Kleidungsstücke sind extrem robust, wegen des schlichten Designs lange tragbar und auch in nachfolgenden Saisonen noch erhältlich.
Und wenn wirklich ein Stück das Zeitliche segnet, kann man es bei Luxaa zurückgeben. Von Anne Trautwein wird es nicht in die Tonne getreten, sondern dem Wertstoffkreislauf zugeführt: Tyvek wird – bis zu fünfmal – wieder zu Tyvek. Im Downcycling-Prozess kann es als Material für Schutzhelme und andere Hartplastik-Objekte verwendet werden: weniger kleidsam, aber total funktional und ohne Rohstoffverlust. Das alles wirft zwar (noch) nicht viel Geld ab. Dafür bietet Luxaa seinen Betreiberinnen den unschätzbaren Wert, voll und ganz hinter ihrem Geschäft stehen zu können – und dabei auch noch besonders gut angezogen zu sein. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 28.11.2013