Mehr als Seelen-Masseure Die Musiker der Staatskapelle Berlin stören seit 2009 den orchestralen Betriebsablauf. Und das nicht, weil sie Misstöne anstimmen, sondern indem sie sich für Umwelt- und Klimaschutz einsetzen.
Der barock anmutende Konzertsaal ist voll besetzt, das Publikum applaudiert. Beherzt erklimmt der Dirigent – im schwarzen Frack gewandet, die Haare zerzaust – sein Pult. Er hebt die Hand und gibt den Einsatz. Das Orchester spurt sofort und spielt auf. Aber die Harmonie ist nicht von Dauer: Immer wieder wird der Dirigent von musikalischen Ausreißern auf die Probe gestellt. Seine Instrumentalisten stimmen Melodien an, die er nicht vorgesehen hat; sie werden leiser oder setzen ein, wenn sein Taktstock anderes zeigt. Deutlich irritiert versucht er die Deserteure wieder einzufangen; er fuchtelt über die Störungen hinweg. Doch die widerständigen Tendenzen sind nicht zu bändigen...
Was Loriot im Sketch „Die kleine Nachtmusik“ humoristisch übersteigert, ist die unangefochtene Führungsposition des Dirigenten, die nur funktioniert, wenn alle Orchestermitglieder sie anerkennen. Dass ausgerechnet dieser Berufsstand auf die Schippe genommen wird, ist kein Zufall: Orchester sind straff organisiert. Sie folgen den Vorgaben einer Leitung, die nicht nur bei Konzerten den Takt angibt, sondern auch das gesamte Orchesterleben prägt. Der Dirigent wählt das Repertoire, und er entscheidet, wer die erste Geige spielt. Das bildet Hierarchien, die wenig Spielraum für eigene Ideen und Veränderungen lassen.
Die Musiker der Staatskapelle Berlin, einem der wichtigsten und größten Orchester der Hauptstadt, wollten aber genau das: etwas verändern. Sie starteten eine für ihr Metier ungewöhnliche Initiative, die ihnen die Möglichkeit eröffnete, sich als Musikerinnen und Musiker mit umweltpolitischen Themen auseinanderzusetzen.
Immer wieder hatten die Orchestermitglieder sich gefragt, wie sie Verantwortung übernehmen könnten. Und weil sie bereits in ihrer professionellen Tätigkeit an einem Strang zogen, lag die Idee nicht weit, gemeinsam eine Stiftung zu gründen. 2009 legte das Ensemble kurzerhand Geld aus den Privatvermögen der Mitglieder zusammen, holte sich den WWF als Partner an Bord und gründete die NaturTon-Stiftung. Stiftung für die Erde, die seither nachhaltige Projekte unterstützt.
Das erste Projekt, das der WWF initiierte und die NaturTon-Stiftung förderte, unterstützte die wachsende Bevölkerung im Himalaya dabei, Brennholz zu sparen, um so das Abholzen der dortigen Wälder zu bremsen. Zwar war dies eine große Chance, gleich mit etwas Konkretem zu starten, doch brachte es auch Probleme mit sich. Denn was tatsächlich im weit entfernten Indien passierte, war für die hiesige NaturTon-Stiftung wenig überschaubar: „Wir konnten nicht wirklich nachvollziehen, wohin das Geld ging“, berichtet Markus Bruggaier vom Vorstand der NaturTon-Stiftung, der seit 1998 das zweite Horn in der Staatskapelle spielt.
Die junge Stiftung begann, sich fortan auf eigene Projektideen mit direktem Bezug zur Musik zu fokussieren. Dafür brauchte sie sich nur in den eigenen Reihen umzusehen: Das nächste Vorhaben entstand aus einer Zusammenarbeit mit der in Moldawien geborenen Geigerin Patricia Kopatchinskaja. New Life on Lower Pruth River renaturiert Auenwälder im Flussdelta des Pruth im Süden des Landes. Hinzu kam ein Engagement der Stiftung in Madagaskar. Dort setzt sich die NaturTon-Stiftung für den Schutz vom Aussterben bedrohter Eben- und Palisanderhölzer ein, aus denen unter anderem Streichinstrumente gebaut werden. Und auch die jüngsten Pläne stehen im Zeichen von Musik und Natur. Das Projekt Zauberwald möchte Berliner Kindern sowohl die Oper als auch den Lebensraum Wald näher zusammen bringen. Auf einem Abenteuerspielplatz, der in den Gärten der Welt in Marzahn-Hellersdorf geplant ist, sollen sie sich musikalisch ausprobieren können.
Um die Projekte zu finanzieren, machen die Mitglieder der Staatskapelle Berlin, was sie am besten können: musizieren. Als Orchester des Wandels, dem musikalischen Organ der NaturTon-Stiftung, veranstalten sie seit 2011 sogenannte Klimakonzerte, deren Erlös vollständig an die Stiftung geht. „Mit dieser Idee sind wir ein bunter Hund“, sagt Bruggaier. Stets müssen er und seine Kollegen ihre Initiative gegenüber der Orchesterleitung verteidigen, denn ihr Anliegen wird oft als Gutmenschentum belächelt. „Erstaunlicherweise gibt es relativ wenige Menschen, die sich sowohl mit Umweltschutz als auch mit Musik befassen“, konstatiert Bruggaier. „Dabei braucht das Thema gerade uns – es braucht ein Orchester! Denn als Musiker können wir emotionale Dinge tun, die sonst keiner kann: nämlich die positive Erinnerung an ein Konzert mit Nachhaltigkeitsthemen verbinden.“
Nicht zuletzt machen die Klimakonzerte auch den Musikern Freude. Im Orchester des Wandels können sie aus den festen Strukturen ihres Jobs ausbrechen: Sie planen die Konzerte selbst und wagen hier und da auch mal Experimente; und sie beziehen die musikalischen Besonderheiten des Landes mit ein, für das gerade Geld gesammelt wird. Jedes Rütteln an Traditionen birgt dabei auch das Risiko, dass das Neue nicht angenommen wird: „Aber da muss ich mir eben überlegen, ob ich nur Seelen-Masseur sein will, oder etwas bewegen möchte“, sagt Bruggaier über die Entscheidung, die jeder Musiker und jede Musikerin für sich treffen muss.
Etwas bewegen kostet Zeit und Energie. Proben, Organisation und Durchführung der Konzertabende sind extrem aufwendig und werden von den Musikern ehrenamtlich geleistet. Diese Arbeitszeit fehlt der Staatskapelle Berlin wiederum an anderer Stelle: „Wir stören den Betriebsablauf“, lächelt Bruggaier. Angst macht ihm und seinen Mitmusizierenden das nicht. Die Klimakonzerte sind ihnen die Diskussionen und den zusätzlichen Aufwand wert.
Die Staatskappellanten erreichen dabei gleich zweierlei: Sie schaffen sich Freiräume für ihr musikalisches Können und spielen zugleich für nachhaltige Projekte eine Menge Geld in den Klingelbeutel der NaturTon-Stiftung. Und die soll möglichst lang bestehen: „Wir wollen nicht einzelne Feuerwerkskörper abschießen, sondern ein anhaltendes Feuerwerk “, betont Bruggaier. „Dabei merken wir immer wieder: Es geht gar nicht so sehr um das Geld, sondern vor allem darum, Themen in die Öffentlichkeit zu bringen.“ Während sich die verschiedenen Projekte gut entwickeln, bleibt es für die Stiftung schwer. Denn auch wenn die Klimakonzerte hochkarätig besetzt sind und mit einem ungewöhnlichen Programm aufwarten, ist es extrem schwierig, sich in der Kulturlandschaft zu behaupten, wie Bruggaier bekennt: „Wir kämpfen ums Überleben.“
Die Stiftung hofft deshalb nicht nur auf viele Unterstützer, sondern versucht auch andere Orchester für ihre Idee zu begeistern. Das Engagement des Orchester des Wandels ist Passion, bewegt eine Menge und kann daher geltend machen, was Loriot für seine Interpretation der „Kleinen Nachtmusik“ in Anspruch genommen hat; nämlich im übersättigten Kulturbetrieb aus der Reihe zu tanzen. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 03.07.2014