Liebe ist: Wenn man alles über sein Gemüse weißSeit 30 Jahren pflegt TAGWERK die Beziehung zwischen regionalen Bioproduzenten und Verbraucherinnen. Die Grundsätze der Genossenschaft erinnern an die einer alten, angegrauten Liebe. Die aber hat ihre besten Zeiten noch vor sich.
Von Wind und Sonne gegerbt steht der Bauer, wie wir ihn uns vorstellen, auf dem Feld. Mit rauen Händen, von Hornhaut überzogen, wischt er sich den Schweiß aus den Augen und schwingt die Sense, harkt das Getreide oder hält den Pflug. Erst wenn die Sonne am Horizont verschwindet, tritt er den Heimweg an. Wenn er dann seine müden Knochen auf die Strohmatratze bettet, weiß er, was er geschafft hat. Aber nicht nur die schmerzenden Glieder künden davon, sondern auch die Fläche Land, die er heute beackert hat: sein Tagwerk, der sichtbare Beweis der verrichteten Arbeit.
Diese Ermessung des eigenhändig vollbrachten Werks ist für landwirtschaftliche Erzeuger heute nur noch schwer möglich, für Lebensmittelkäuferinnen nachvollziehbar ist sie schon gar nicht. Die Vorstellbarkeit landwirtschaftlicher Arbeitsprozesse wird umgepflügt von Monstermaschinen und verliert sich in Feldern, die so groß sind, dass man ihre Begrenzungen nur erahnen kann. Und die Konsumentin kauft ihre Lebensmittel meist ohnehin nicht direkt vom Erzeuger, sondern im Supermarkt, in handliche Portionen gestückelt, verschweißt, verpackt und mit Zusätzen aufgemotzt.
Herstellung, Verpackung und Vertrieb finden nicht mehr am selben Ort statt, oft nicht mal im selben Land, und ein Produkt hat meist einen weiten Weg hinter sich, bevor es in der Tüte landet, die wir zu Hause aufreißen. Auf der Papier- oder Plastikumhüllung kann man zwar, klein gedruckt, nachlesen, wo der Inhalt erzeugt wurde, doch wer genau es auf welche Weise hergestellt haben könnte, ist kaum nachvollziehbar. Auch im Biomarkt wird Qualität nur qua Label transportiert, nicht über den Bezug zum Produzenten.
Dieser Anonymisierung der Nahrungsproduktion hat TAGWERK bereits in den frühen 1980er Jahren den Kampf angesagt. Die Genossenschaft im oberbayerischen Dorfen suchte der Entfremdung zwischen Erzeugern und Verbraucherinnen von landwirtschaftlichen Produkten entgegenzuwirken und hat eine Struktur geschaffen, die es auch Konsumenten ermöglicht, eine emotionale Beziehung zu ihren Lebensmitteln aufzubauen. Menschliche Beziehungen sind schon so eine Sache, doch wie soll man um Himmels willen ein emotionales Verhältnis zu einem Gemüse aufbauen?
Der Grundstein der Verbindung ist das Prinzip der gemeinschaftlichen Finanzierung über Genossenschaftsanteile. Sie können bei TAGWERK zu je 200 Euro gekauft werden und bilden das Eigenkapital der Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft. Die Anteile werden, wie bei anderen Genossenschaften auch, nicht verzinst, können aber zurückverlangt werden. Mit dem Do-it-yourself-Prinzip – hier auch Pay-for-it-yourself – entziehen sich die Genossen den Strukturen konventioneller Lebensmittelproduktion. Stattdessen unterstützen sie ein System der regionalen Versorgung mit Lebensmitteln: TAGWERK kauft Produkte von örtlichen Landwirten ein und verkauft sie in mittlerweile acht Lizenz-Läden, in Naturkostfachgeschäften, auf Märkten in der Region und nach Wunsch auch in einer Abokiste. Zu Beginn wurden bei TAGWERK sämtliche Produktionsleistungen gleich bezahlt. Mit gerade einmal vier Erzeugerbetrieben begann die Genossenschaft 1984. Heute sind über 100 landwirtschaftliche Betriebe beteiligt, und das Vergütungssystem musste dementsprechend weiterentwickelt werden, doch die Unterschiede zwischen den Gehältern bleiben gering.
Klingt anachronistisch und beschwört Bilder von gärtnernden Hippies in weiten Batikgewändern herauf? In Wirklichkeit ist die Strategie von TAGWERK ein frühes Beispiel für den Einsatz von Networking und Crowdfunding gegen die Industrialisierung der Landwirtschaft. Und das Konzept hat Bestand: Seit nun schon drei Jahrzehnten vertreibt die Genossenschaft die Produkte regionaler Bioproduzenten zu fairen Preisen und nutzt die Etiketten der Waren ganz bewusst, um den Personen hinter der Nahrung wieder ein Gesicht zu geben.
Auch wenn sich TAGWERK bemüht, eine Marke mit Wiedererkennungswert zu schaffen, verstecken sich die Genossen nicht hinter ihrem Label, sondern sind ansprechbar. Sie laden die Bio-Erzeuger und Konsumentinnen regelmäßig ein, sich kennenzulernen und sich im Austausch selbst ein Bild voneinander zu machen. Und hier sind sie wieder, die persönlich- emotionalen Beziehungen. Diese sind nicht nur die Basis des gegenseitigen Vertrauens, sondern auch der Garant für das Funktionieren des genossenschaftlichen Geschäftsmodells.
Dabei achten die TAGWERKler darauf, dass die Liebe auch am Ladentisch zu spüren ist. „Die Leute fragen jetzt ganz gezielt nach unseren Produkten, das ist eine tolle Entwicklung“, freut sich Klaus Hutner, Vorstandsmitglied und seit 13 Jahren Teil der Beziehungskiste. Bauernhöfe, Gärtnereien und Imker halten TAGWERK die Treue, und auch Bäckereien, Metzgereien und zwei Mühlen sind in die Genossenschaft eingebunden. Das Interesse an Regionalität und Bioqualität wächst auf Seiten der Produzentinnen wie der Konsumenten. Die stark gestiegene Anzahl der beteiligten Betriebe ist ein Zeichen für den Erfolg des Modells, aber zu groß soll TAGWERK auch nicht werden: „Wir möchten überschauen können, was wir tun, die Schritte nachvollziehen, um voll dahinterstehen zu können“, fasst Hutner das fortwährende Anliegen der Überschaubarkeit des landwirtschaftlichen Tagwerks zusammen.
Folgerichtig macht die Genossenschaft alle Interna für die Mitglieder transparent, fasst Entschlüsse in Mitgliedervollversammlungen, lädt regelmäßig zu Tagen der offenen Tür und gibt eine kleine Hauszeitung heraus, die auch über den Tellerrand der landwirtschaftlichen Produktion blickt und dabei eine linkspolitische Einstellung unverbrämt transportiert. Seit 2012 ist TAGWERK Teil der Gemeinwohl-Ökonomie und überprüft nach deren Kriterien, wie es um den gesellschaftlichen Wert der eigenen Arbeit steht. Das Ergebnis der ersten Gemeinwohlbilanz hat die Genossen dazu motiviert, eingespielte Abläufe neu zu hinterfragen. Nach oben ist noch Luft.
Und es gibt neue Projekte, wie jüngst die Finanzierung und Einrichtung einer Gläsernen Biometzgerei. Dort soll alles unter einem Dach stattfinden: die Aufzucht und Unterbringung der Tiere, deren Schlachtung und schließlich die Verarbeitung zu Fleisch und Wurst. So will TAGWERK die komplette Kette der Fleischherstellung kontrollieren können und die Haltung und Schlachtung so gestalten, dass sie für die Tiere möglichst stressfrei verläuft. Um das Projekt zu stemmen, bringt TAGWERK seit ein paar Monaten aktiv Genossenschaftsanteile an den Mann beziehungsweise an die Frau, um autark und mit möglichst geringer Bankenbeteiligung auch die vergleichsweise großen Investitionen in die Metzgerei finanzieren zu können.
Nur weil man sich auf alte Werte besinnt und kleinteilige Strukturen fördert, anstatt auf industrielle Lebensmittelproduktion zu setzen, ist man noch lange nicht ewiggestrig. Bei TAGWERK hat man die Zukunft der Landwirtschaft im Blick: Am Ende des Tages soll ein Bauer auf dem Feld stehen, kein Angestellter eines Agrarkonzerns. Wenn der sich an der verrichteten Arbeit erfreut, blickt er gedanklich in die Runde seiner Genossinnen, Verkäufer und Konsumentinnen. Wie viel Feld letztlich beackert wurde, ist dabei weniger wichtig, als es gemeinsam getan zu haben. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 01.11.2015