Essen mit gesunden Manieren Wenn wir gesund essen möchten, müssen wir frische Zutaten benutzen und selbst kochen. Dass dabei nicht nur der Genussfaktor rapide ansteigt, sondern auch die Chance etwas gegen die Übermacht der Lebensmittelindustrie auszurichten, beweist Sarah Wiener, die bekannteste Köchin Deutschlands.
Dunstschwaden wabern aus mannshohen Kühlschränken, zerpflückter Salat in Folie schmiegt sich an eingeschweißtes Tofu-Schnitzel. Raschelnde Plastikverpackungen, Dosen, Kunststoffflaschen und Pappboxen stapeln sich bis unter die Decke. Obst und Gemüse sind in Reih und Glied formiert; ihre gewachsten Schalen reflektieren die künstliche Beleuchtung. Fleischfetzen liegen aufgebahrt in der Kühltheke neben portioniertem Käse, der unter den Preisetiketten kaum noch zu erkennen ist. Fische kehren ihr Innerstes nach außen und präsentieren sich von Gräten und Gedärmen befreit, auf Eis gebettet. In Tiefkühltruhen lagert Vorgekochtes oder in ein künstliches Kältekoma Versetztes und wartet auf seine Wiederauferstehung als schnell erhitztes Fertigessen. Überall riecht es nach Plastik und künstlichen Aromen. Supermarktalltag.
„Das ist doch Wahnsinn!“, konstatiert Sarah Wiener, Fernsehköchin, Unternehmerin und Buchautorin, mit Nachdruck: „Im Supermarkt werden uns Lebensmittel angeboten, die würden unsere Großeltern gar nicht mehr als solche erkennen.“ Wenn wir kurz vergessen, wie normal es für uns ist, dort jeden Tag einzukaufen, dann erscheint das Supermarktwesen plötzlich wie eine Fortschrittsgeschichte, die ziemlich in die Hosen gegangen ist.
Rund zwei Drittel unserer Lebensmittel werden industriell verarbeitet. Sie werden in ihre Bestandteile zersetzt, neu kombiniert, gefriergetrocknet, aufgeblasen, geschmacksverstärkt, eingefärbt, verschweißt, schockgefroren und eingetütet, pasteurisiert und sterilisiert. Zusammen mit den Nährstoffen wird in den verschiedenen Verarbeitungsschritten auch der Geschmack herausgefiltert, zerkocht oder ausgewaschen. Oft müssen Food-Designer und Chemiker am Ende beides wieder künstlich zuführen. Aus Lebensmitteln werden so Funktionsessen, bei denen vor allem zählt: Haltbarkeit und Transportfähigkeit auf Seiten der Produzenten; Bequemlichkeit und Zeitersparnis auf Seiten der Konsumentinnen.
Wiener, aufgewachsen in ländlichen Gefilden in Österreich, kennt das noch anders: Als Kind streifte sie durch Felder und Weiden. Von den Bauern bekam das Mädchen Tomaten direkt vom Feld geschenkt, so weich, dass sie auf der Zunge zergingen, sie erntete Apfelsorten, die heute vom Aussterben bedroht sind, und konnte aus der Milch heraus schmecken, was die Kuh vorher wiedergekäut hatte. Ihre Familie sorgte für eine ganzheitliche und regionale Ernährung, bevor es diese Label überhaupt gab. Mit diesem in der Kindheit erworbenen Erfahrungsschatz ausgestattet, war sie sensibilisiert wahrzunehmen, welche Veränderungen sich in Erzeugung und Verarbeitung von Nahrungsmitteln bis heute vollzogen. Als ihr eines Tages jemand erzählte, dass Pflanzenschutzmittel nichts anderes seien als Gifte auf der Oberfläche unserer Nahrung, die mit Tomaten, Gurken, Äpfeln und Birnen auf unserem Teller landen, begann sie zu erforschen, wer eigentlich darüber entscheidet, was wir essen und wie sehr unser Essverhalten mit den Machenschaften der Nahrungsmittelindustrie verwoben ist.
Schon bald dämmerte ihr: Es ist kein Zufall, dass der Supermarkt zu unserem Lieblingsrevier für den Einkauf mutiert ist. „Wir leben in einer Welt, in der uns weisgemacht wird, dass die Sterilisierung jeglicher Nahrung gut ist“, erklärt Wiener. „In Wirklichkeit führt sie aber zu toten Lebensmitteln.“ Die Zentralisierung der Landwirtschaft, Monokultur, Massentierhaltung und ausgeklügelte Marketingstrategien haben uns so sehr an die industriell hergestellte Nahrung gewöhnt, dass wir gar nicht mehr wissen, wie unbehandelte Produkte schmecken. Gleichzeitig übernimmt die Industrie die Zubereitung vieler Gerichte und lässt unsere Kochfähigkeiten auf Dauer verkümmern.
Dagegen kocht Sarah Wiener auf großer Flamme an. Als Fernsehköchin führt sie auf Arte regelmäßig in die Vielfalt regionaler Küchen ein; in drei Berliner Restaurants bewirtet sie Gäste. Ihr Catering-Service Sarah Wiener tischt ausschließlich Kreationen aus ökologischen und regionalen Produkten auf und ihre Holzofenbäckerei Wiener Brot besinnt sich auf althergebrachtes Bäckerhandwerk. Sarah Wieners Feinkost, eine Produktlinie bestehend aus Gewürzpasten, Früchteaufstrichen und Müslivariationen, enthält ausschließlich Zutaten aus biologischem Anbau und soweit wie möglich aus der Region. Wiener ist Schirmherrin des Tierzuchtfonds für artgemäße Tierzucht und setzt sich für regionale Landwirtschaft ebenso ein wie für die Erhaltung der Artenvielfalt.
Es geht Sarah Wiener in all ihrem Tun nicht um Einkaufsorgien im Biomarkt oder darum, die neuesten Ernährungstrends zu verfolgen. Sie plädiert vielmehr dafür, Lebensmittel nicht als Überfluss wahrzunehmen, sondern sie als das wertzuschätzen, was sie sind: kostbare Ressourcen, die über unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit bestimmen. Ihr Ausweg aus der Lebensmittelmisere ist schlicht und ergreifend: selber kochen. Die Auseinandersetzung mit der Nahrung sollte nicht erst in der heimischen Küche beginnen, sondern schon beim Einkauf. Und nachhaltig kochen endet schließlich damit, die Reste der Küchenexperimente nicht achtlos in die Tonne zu werfen, sondern weiterzuverwerten.
In ihrem Buch Zukunftsmenü. Warum wir die Welt nur mit Genuss retten können zeigt Wiener außerdem, dass die Essenszubereitung kein lästiges Schuften überm Herd bedeutet. Sie ist eine Entdeckungsreise, auf der man wahnsinnig viel erleben und mit den Lebensmitteln auf Tuchfühlung gehen kann: zu beobachten, wie aus Milch Joghurt wird und aus klebrigem Teig saftiger Kuchen, oder mit Spannung das erste Glas eigenhändig eingelegte Gewürzgurken zu öffnen. Das ist meist nicht nur billiger als Fertiggerichte aufzuwärmen, sondern auch leckerer.
Um mit der Vermittlung der positiven Erfahrungswerte möglichst früh anzufangen, hat die passionierte Köchin die Sarah Wiener Stiftung gegründet. Kinder und Jugendliche können hier in organisierten Gruppen experimentell schnippeln, brutzeln und braten, auf Ausflügen auf den Bauernhof Tiere und Pflanzen kennen lernen oder Rezepte aus dem von Wiener herausgegebenen Kochbuch Landschaft schmeckt. Nachhaltig kochen mit Kindern ausprobieren.
Ernährungssouveränität kann funktionieren, da ist sich Sarah Wiener sicher, wenn wir wieder selbst den Kochlöffel schwingen und ein Gefühl für uns und unsere Zutaten entwickeln. Dafür müssen wir nur neugierig und aufmerksam sein und nachfragen, wenn wir zum Beispiel nicht verstehen, was sich hinter geheimnisvollen Inhaltsstoffen wie ‚Würze’ oder ‚Trockenhuhn’ verbirgt. Wiener fragt bis heute nach, oft auch kritisch und kocht damit ihr eigenes Süppchen: Sie ist die bekannteste Köchin Deutschlands, obwohl – oder gerade weil – sie sich nicht davor scheut, die Übeltäter der Nahrungsmittelindustrie zu entlarven. Da kennt die Köchin kein Pardon: Die Kritik, die sie verabreicht, wird gegessen! FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 23.10.2014.