Das Maß aller Dinge Die rheinland-pfälzische Gemeinde Wallmerod hat der Landflucht den Kampf angesagt. Statt wie viele andere Ortschaften billiges Bauland zu vergeben, setzt man hier auf die Wiederbelebung der Dorfkerne.
Rienza, die Idealstadt der Renaissance, ist am Maß des Menschen ausgerichtet, auf dass er mit sich und der Natur im Einklang lebe. In die Gegenwart übersetzt meint das Architekturen, die ihre Bewohner nicht in Häuserschluchten einsperren, sondern Gebäude und Straßen, zu denen man sich in Beziehung setzen kann. Es meint Infrastrukturen, die fußläufig zu erreichen sind, statt Entfernungen, denen man nur noch mit dem Auto beikommen kann.
Das Rienza'sche Ideal war in Stadt und auf dem Land bis Mitte des 20. Jahrhunderts Status Quo und hat sich in ländlichen Gefilden häufig noch in den Grundzügen erhalten: Die Gebäude sind um einen Platz gruppiert, der neben Kirche und Rathaus auch den Markt beherbergt. Durch seine zentrale Lage ist er von überall gut erreichbar und dient nicht nur dazu, sich mit Lebensmitteln einzudecken, sondern auch als sozialer Umschlagplatz für Neuigkeiten. Und trotzdem ist in den meisten Ortskernen heute nicht mehr viel los. Die alten Zentren sind verwaist, die Gebäude verkommen, zurückgelassen von ihren Bewohnern.
Daran ist nicht nur die Landflucht schuld, die Tatsache, dass immer mehr Menschen vom Land in die Stadt ziehen, sondern auch die Art, sie zu bekämpfen. Denn um die ländlichen Gegenden für die Menschen wieder attraktiv zu machen, locken viele Gemeinden mit billigem Bauland am Dorfrand. Die Folge: Ortschaften fransen aus, Nahversorgung rentiert sich nicht mehr und Wege werden länger. Statt auf Märkte zu gehen, fährt man nun die Supermärkte auf der grünen Wiese an. Das Maß ist nicht mehr der Mensch, sondern sein fahrbarer Untersatz. Ins Gespräch kommen kann man beim Einkaufen höchstens noch mit dem Supermarktpersonal.
Zu Beginn der 2000er-Jahre hatte der damalige Bürgermeister von Wallmerod, Jürgen Paulus, mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Der Gemeindenverbund, zwischen Montabaur und Limburg gelegen, ist keine Touristenattraktion. Seine 21 Ortschaften haben keine historischen Fassaden, keine heißen Quellen, liegen nicht mitten im Wald oder an einer Seenplatte. Aber sie sind bequem per ICE erreichbar – der nächste Bahnhof liegt jeweils nur rund zehn Kilometern entfernt –, was sie für Pendler in die größeren Städte attraktiv macht.
Dass Erreichbarkeit alleine nicht reicht, um für Nachwuchs in der Gemeinde zu sorgen, war auch dem Bürgermeister klar. Ein Programm zur Wiederbelebung musste her. Anstatt aber in Randbebauung zu investieren und in den Zentren verfallen zu lassen, entwickelte er zusammen mit seinem Team ein Modell zur Belebung der Ortskerne.
Bau- und Renovierungsprojekte sollten fortan in bestimmten gekennzeichneten Gebieten in den Dorfzentren gefördert werden. Die Gelder dafür sollten direkt aus dem Budget der Verbandsgemeinde Wallmerod kommen. Das entschied die Verbandsverwaltung aber nicht einfach über die Köpfe der Gemeindemitglieder hinweg, sondern stimmte sich demokratisch mit den 21 Ortsbürgermeistern der selbständigen Ortsgemeinden ab. Die nahmen den Vorschlag einstimmig an und so bekam der Plan nicht nur den nötigen finanziellen Rückhalt, sondern auch ideelle Unterstützung.
Seit 2004 fördert das Wallmeroder Modell „Leben im Dorf - Leben mittendrin“ Lückenbebauung, Abriss und Neubau von nicht mehr zu rettender alter Bausubstanz sowie die Sanierung historischer Gebäude in den Ortskernen – mit bis zu 8.000 Euro, abhängig von der Familiengröße, und über einen Zeitraum von höchstens acht Jahren.
Die Bewerbungsformulare sind bewusst einfach und die Hürde niedrig gehalten worden, versichert Mario Steudter, Leiter der Wallmeroder Bauverwaltung. Bevorzugt werden Gemeindemitglieder und junge Familien. Grundsätzlich können sich aber Bürgerinnen und Bürger aus ganz Deutschland für eine Förderung bewerben. Wo genau ihr persönlicher Traum vom Leben auf dem Land wahr werden könnte, erfahren Interessierte in der Dorfbörse, einem Online-Portal für die Immobilienvermittlung. Hier finden sich Informationen über alle freistehenden Häuser und Baulücken.
Das Konzept geht auf. „Seit Beginn 2004 wurden über 200 Objekte gefördert“, fasst Steudter die Erfolgsbilanz zusammen, „und insgesamt gingen 75 Prozent der Förderungen an junge Familien.“ 30 Millionen Euro wurden inzwischen investiert. Das kommt nicht nur den Ortskernen zugute, sondern natürlich bleibt auch die Einkommensteuer der neu zugezogenen und dagehaltenen Einwohnern in der Gemeinde.
Damit aber noch lange nicht genug: Der jetzige Bürgermeister Klaus Lütkefedder führt das Projekt nicht nur erfolgreich weiter, sondern baut es sogar aus. Ganz nach dem Ideal von Rienza hat Lütkefedder die Nahversorgung in den Blick genommen.
Zwar besteht für große wöchentliche Märkte bisher noch kein Bedarf, doch eine abgespeckte Version gibt es schon: Der Mobile Markt kommt jede Woche in verschiedene Ortschaften gefahren und bietet jeweils für eine Stunde seine Waren feil.
Weil der soziale Aspekt dabei ein wenig zu kurz kommt, wurde dafür anderswo Raum geschaffen: Eigens sanierte Gebäude wurden zu „Mehrgenerationentreffs“, die Gemeindemitglieder aller Altersgruppen zusammenbringen. Ob man dort lieber Kuchen isst, strickt, Skat spielt oder vorbei kommt um sein Kind in der selbstorganisierten Krabbelgruppe abzugeben, ist jedem selbst überlassen. Man kann auch an den Aktionen der von Wallmerod hautberuflich beschäftigten Jugendpflegerin teilnehmen. Dabei geben dann schon mal Jugendliche Wissen über ein interaktives Computerspiel an die ältere Generation weiter.
Was auf den ersten Blick aussieht wie von oben aufoktroyierte Maßnahmen, erfreut sich tatsächlich großer Beliebtheit und stellt langsam die Infrastruktur wieder her, die sich früher in den Dörfern von selbst ergab. Die Aktionen zur Ortskern-Wiederbelebung werden von den Gemeindemitgliedern insgesamt sehr gut angenommen, meint Steudter, der selbst zum Projekt gekommen ist, „wie die Mutter zum Kinde“, es jetzt aber „voll mit lebt“.
Neben der Betreuung vor Ort steckt Steudter viel Energie in die Verbreitung des Wallmeroder Modells. Unermüdlich sucht er, zusammen mit dem Bürgermeister, den Austausch mit ähnlichen Projekten. Gäste reisen aus Japan und Belgien an; Lütkefedder und Steudter selbst fahren kreuz und quer durch Deutschland, halten Vorträge, zeigen bunte Graphen und Tortendiagramme. Stolz präsentieren sie die Zahlen, die belegen, dass die Idee funktioniert. Und die Vermittlungsarbeit lohnt sich: Von Norddeutschland bis in tiefste Bayern findet Wallmerod Nachahmer. Die niedersächsische Samtgemeinde Barnstorf zum Beispiel hat das Modell 1:1 übernommen.
Wenn alles so weitergeht, wird Wallmerod schon bald keine Förderpläne mehr brauchen, um seine Bürger zusammenzubringen, weil die sich ganz einfach bei ihren täglichen Besorgungen begegnen und beim Obststand den neusten Dorfklatsch austauschen werden. Damit werden sie keiner romantischen Vision gerecht, sondern gehen einem ganz normalen Leben in einem Ort nach, der die Bedürfnisse seiner Einwohner kennt. Leer und verwaist sind dann höchstens die abgelegenen Einkaufszentren. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 03.12.2015