Das Gras der Zukunft wachsen hören Die Firma BIOWERT erprobt ein Material, das die Plastikindustrie revolutionieren könnte: Sie stellt Kunststoff aus Wiesengras her. Bis die Industrie von dessen Vorzügen überzeugt ist, entwickelt die hessische Firma die Produkte aus ihrem Stoff einfach selbst.
Inmitten von Wiesen, auf einer Anhöhe, liegt ein kleiner Industriekomplex. Metallene Röhren verbinden dessen drei Gebäude in abenteuerlichen Windungen. Im Inneren des kleineren Baus blubbert und wabert es: Wärmeliebende Bakterien machen aus Lebensmittelabfällen Biodünger. In dem runden Gebäude gegenüber sieht es aus wie in einem alchemistischen Labor, nur viel größer. Noch mehr Röhren, Kessel und Maschinen, so hoch wie ein ganzes Stockwerk. Darüber weht ein Heuduft. Auf dem Boden stapeln sich Säcke mit körnigem Granulat, braungrün. Vor dem Bürohaus ebnen Bodenplatten aus Kunststoff den Zugang, in erdigem Farbton passen sie sich mühelos dem Untergrund an.
Michael Gass stapft über das Gelände in Brensbach im Odenwald und unterstreicht mit ausholenden Armbewegungen immer wieder das Besondere am Konzept seiner Firma BIOWERT: ein Kreislaufsystem, das kaum Ressourcen braucht und noch weniger Abfälle produziert. Das benötigte Wasser wird dem verwendeten Wiesengras und der Biomasse entzogen, und es wird nach jedem Durchlauf neu aufbereitet. Die Abwärme aus der Produktion nutzt man, genauso wie das erzeugte Biogas, zur Warmwasserbereitung, für Trocknungsprozesse und zur Erzeugung von Ökostrom. Und es kommt noch besser: Das Kreislaufsystem ist nur ein Vehikel zur Produktion eines Materials, das eigentlich die Kunststoffindustrie revolutionieren müsste.
Die hätte einen Umbruch dringend nötig. Denn sie produziert, als gäbe es kein Morgen. Weltweit werden so gut wie alle Plastikprodukte aus Erdöl gewonnen, die Produktion ist energieintensiv, und die erzeugten Kunststoffe brauchen Jahrhunderte, bis sie in der Natur zerfallen. Als Gegenmodell hat der Chemiker und Ingenieur Michael Gass einen pflanzlichen Kunststoff entwickelt: „AgriPlast“. Zwar gibt es mittlerweile einige Kunststoffe auf Pflanzengrundlage, auch wenn ihr Marktanteil im Vergleich zu erdölbasiertem Plastik noch verschwindend gering ist. Aber anders als diese anderen Plastikarten, die etwa aus Mais- oder Kartoffelstärke gewonnen werden, konkurriert Gass’ Stoff nicht mit der Nahrungsmittelproduktion und fördert keine Monokulturen. Denn „AgriPlast“ besteht aus Wiesengras. Dass sich daraus Kunststoff erzeugen ließe, diese Vision hatte der Chemiker Ende der 1990er Jahre. Zusammen mit einem Kollegen begann er bald zu experimentieren und stürzte sich in sein Vorhaben, das auch seine gesamten finanziellen Rücklagen verschlang. Von der „Schnapsidee bis zur Umsetzung“ vergingen gute zehn Jahre, aber 2007 war es so weit: Die Grasfabrik BIOWERT ging an den Start.
„Das ist unser Produkt“, sagt Gass und hievt einen Sack voller Plastikschnipsel auf den Tisch. Wie Hasenköttel sieht das Granulat aus, es hat die Farbe von Heu und riecht auch danach. Das innovative Material ist in unterschiedlichen Ausführungen zu haben, die, je nach Funktion, zu bis zu 75 Prozent aus Gras bestehen. Alle sind sie recycelbar und der Grasanteil biologisch abbaubar. Um die Stabilität des Plastikprodukts zu gewährleisten, müssen dem Gras dennoch erdölbasierte Kunststoffe und Biomasse zugesetzt werden. Aber dabei handelt es sich ausschließlich um zuvor schon genutztes, wiederverwertetes Material. Selbst die verwendeten Farbstoffe dienten schon den Steinzeitmenschen, um sich an Höhlenwänden zu verewigen: Eisenoxid, Gelbsulfid und Manganoxid.
Gass versteht seine Arbeit als Work in progress. Er ist nach eigenen Aussagen technikverliebt und arbeitet ohne Unterlass an der Verbesserung seines Produkts. Das gilt auch für seine 18 Mitarbeiter: „Die Leute, die hier rumspringen, sind auch Entwickler.“ Ohne sie und ohne seine eigene Begeisterung und die Lust am Neuen hätte der Firmengründer wohl auch kaum durchgehalten. BIOWERT hat nie Fördergelder erhalten, sondern ist bis heute auf private Investoren angewiesen. Deshalb müssen sich Gass und seine Mitarbeiter „ins Getümmel“ stürzen und auch mal „Klinken putzen“ gehen, um Financiers zu finden. Das ist mühsam, aber zum Lamentieren bleibt keine Zeit. Das Auskommen des Betriebs ist noch lange nicht in trockenen Tüchern.
Denn „AgriPlast“ kommt auf dem Markt weniger gut an als erhofft. Unter den potentiellen Abnehmern von Gass’ Kunststoff, nämlich unter den plastikverarbeitenden Betrieben, hapert es am Willen zur Umstellung. Herkömmliche Spritzgießer müssten – wenn auch nur geringfügig – umgerüstet werden, um den BIOWERT-Kunststoff in alle erdenklichen Formen bringen zu können. Aber ohne wirtschaftlichen Anreiz, das heißt solange dieser neue Kunststoff nicht günstiger ist als erdölbasierter, macht das kaum jemand. „Nachhaltigkeit soll am besten sogar noch billiger sein als herkömmliche Produkte“, beschreibt Gass. Das sei ein Denkfehler, ein Knick in der Optik. So existiert zwar jetzt ein ressourcenschonender Stoff, doch die wenigsten Produzenten möchten derzeit damit arbeiten.
Die Materialpioniere aus Brensbach lassen sich von der mangelnden Flexibilität ihrer Umgebung nicht ins Bockshorn jagen. Wenn sonst niemand ihr Material verwenden will, machen sie es eben selbst. Deshalb setzt Gass seit ein paar Monaten auf die Herstellung eigener Produkte. Diese Idee der Kombination von Materialinnovation und Produktdesign scheint ihm zur rechten Zeit gekommen zu sein. Denn was früher schamhaft vertuscht wurde, macht heute die Attraktivität des BIOWERT-Kunststoffs aus: Er sieht nicht aus wie Plastik.
Auch der Erfinder selbst ist mittlerweile stolz auf das visuelle Alleinstellungsmerkmal seines Produkts. „Wir können auch sehr schön unsere Faser zeigen“, sagt er und deutet auf kleine bunt gesprenkelte Plastiklippenstifthüllen im Display seines Showrooms. Die haben keine gleichmäßige Körnung, sondern unterschiedliche Muster, sind also „alles Unikate“ und lassen den aus Holz gewonnenen Kunststoff-Konkurrenten Wood Plastic Composites WPC „ziemlich langweilig“ aussehen, erklärt Gass. Das Fasermuster bezeugt gleichzeitig auch die Herkunft des Produktes aus einem natürlichen Stoff.
Ob Bretter, Kugelschreiber, Seifenspender oder Tassen – aus dem BIOWERT- Kunststoff lässt sich fast alles herstellen. Terrassendielen sind momentan der Topseller und kommen als metallfreies Gesamtpaket. Sie werden nur von Schrauben und Montageclips, ebenfalls aus „AgriPlast“, zusammengehalten. Der neueste Coup der aus der Not geborenen Produktdesigner ist der „GRPL“: ein Hakensystem für Wohnung, Garten oder Werkstatt, das BIOWERT zusammen mit dem in London und Barcelona residierenden Designteam Tapegear auf den Markt gebracht hat. Das raue, schwere Industriedesign hat es bis auf die Pariser Designmesse Maison & Objet geschafft.
Bis das zögerliche Interesse von Herstellern und Industrie an Gass’ Plastik in Euphorie umschlägt, geht es ihm wie vielen anderen Vordenkern. Das zukunftsweisende Produkt ist da, doch die Kleingeister, die sich an Altbewährtes klammern, erkennen die Chance nicht. Gass hingegen bereut nichts – „Ich wusste ja, worauf ich mich einlasse“ – und glaubt fest an eine Materialrevolution. Er hört eben das Gras wachsen. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 01.11.2015