Am eigenen Leib Um einen Bezug zu Nahrungsmitteln zu bekommen, wagt eine Großstädterin den Selbstversuch. Für einen Arbeitstag verlässt sie ihren natürlichen Lebensraum und stellt sich landwirtschaftlichen Realitäten.
Es ist das ewige Dilemma der konsumkritischen Großstädter: Wir leben aus Überzeugung in der Stadt und finden es toll, von Kinos, Supermärkten, Bars und Restaurants umgeben zu sein. Ein Leben auf dem Land können wir uns schwer vorstellen, gleichzeitig machen wir uns Gedanken darüber, was wir essen und wo unsere Nahrungsmittel herkommen. Wir brauchen aber auch die Natur, freuen uns über Ausflüge. Wir lieben den Baum vor unserem Fenster und lauschen gerne dem Rauschen seiner Blätter, insbesondere weil wir das von unserer Stadtwohnung aus können.
Warum also nicht das Dilemma als Herausforderung annehmen, Stadtleben und Naturnähe unter einen Hut zu bringen? Genau darum geht es in der Wilden Gärtnerei, einem Landwirtschaftsbetrieb im Norden Berlins. Dort ist man nicht wild, sondern solidarisch organisiert. Und wie dort unternehmen immer mehr Agrarprojekte den Versuch, biologische Produktion, Kleinbauerntum und solidarisches Wirtschaften miteinander zu verbinden. Ist man zu dieser Solidarität bereit, darf man Städterin bleiben, lernt das Lebensmittel aber aus nächster Nähe kennen, indem man sich die Tastaturfinger zur Abwechslung mal selbst schmutzig macht. Das möchte ich auch und wage den Selbstversuch.
Es ist halb sieben Uhr morgens, zehn Grad kalt. Ich stapfe auf den Hof gleich hinter dem Ortsschild von Rüdnitz. Die Wilde Gärtnerei, wo ich den Tag verbringen werde, hat der Autodidakt Roberto Vena 2008 gegründet, 2012 dann mit der solidarischen Landwirtschaft begonnen. Hier wird radikale Selbstversorgung praktiziert, fast ohne Rückgriff auf hoffremde Ressourcen. Die Hofexistenz wird über die Versorgergemeinschaft gesichert: Ernteteilhaber, die in der Stadt wohnen, zahlen monatlich 80 Euro und kommen sechs Mal im Jahr zur Arbeit in die Gärtnerei. Im Gegenzug bekommen sie Obst, Gemüse und Säfte, die in buntgemischten Kisten einmal pro Woche in die Stadt gefahren werden. Ihre Gemüsedepots verwalten die Städter in selbstorganisierten Kiezgruppen. Wer davon träumt, das Grünzeug an die Wohnungstür geliefert zu bekommen, hat das mit dem Händeschmutzigmachen noch nicht ganz verstanden. Solidarische Landwirtschaft bedeutet auch, den eigenen Ernteanteil im Depot aus erdigen Kisten zusammenzusuchen und dann höchstpersönlich nach Hause zu tragen.
Im Nieselregen kommen mir auch schon meine beiden Mitstreiter entgegen, zwei Studenten aus Neukölln, die Roberto Vena regelmäßig bei der Arbeit helfen. Weil die für den Gärtner und seine Hofgemeinschaft alleine nicht zu schaffen ist, hat sich der heute 38-Jährige für das Prinzip Versorgergemeinschaft entschlossen. Ein Bauernhof ist ein arbeitsintensives Unternehmen – und ein risikoreiches noch dazu, weil die Landwirtschaft von den Launen des Wetters abhängt. Gleichzeitig haben es kleine Höfe in Deutschland schwer, weil hierzulande Quantität oft mehr zählt als Qualität und für viele Käufer das Essen vor allem eins sein soll: billig. Im Kampf um Marktanteile sind große Betriebe klar im Vorteil.
Wieder in Rüdnitz, immer noch viel zu früh: Nach ein paar Minuten Warten erscheint auch Vena, in Tarnanzug, Mütze, sehr festem Schuhwerk und extra langem Bart. Letzterer dient ihm wahrscheinlich als natürlicher Windschutz, denke ich neidisch, weil sich mein Gesicht schon taub anfühlt. Derweil erklärt Vena die Aufgaben des heutigen Arbeitstages. Er hat Erfahrung mit ungeschultem Personal und verteilt die Arbeiten geduldig und mit Rücksicht auf die jeweils selbstformulierte Expertise.
Weil ich gar keinen Plan habe, soll ich Saftflaschen in Kästen sortieren. Ich bin gut drauf, fühle mich frisch und energiegeladen. Und als ich die in gefühlter Rekordzeit fertig gefüllten Kisten da stehen sehe, bin ich zufrieden ob der klaren Aufgabenstellung und des sichtbaren (und so früh am Tag vollbrachten) Ergebnisses. Aber für lange Selbstbeweihräucherung bleibt keine Zeit: Wenn wir mal zwei Minuten warten müssen, weil eines der Helferlein auf dem Plumpsklo verschwunden ist, befreit der Rest der Mannschaft Mini-Kräuterbeete von Mini-Unkraut oder räumt noch schnell ein paar Kisten aus, die später für die nächste Marktlieferung gefüllt werden sollen. Die Städter warten schließlich schon auf ihre Ernteanteile, die Markthalle Neun, in der Vena seine Erzeugnisse auch frei verkauft, auf Nachschub.
Im umfunktionierten Feuerwehrauto, ohne Gurte und Sitze, holpern wir dann zum nächsten Einsatz, zum Abernten von herrenlosen „wilden“ Obstbäumen. Denn der Name des Hofes ist Programm: Vena hat sich darauf spezialisiert, jede verfügbare Ressource zu nutzen, und dazu gehören auch Obstbäume, auf die sonst niemand Anspruch erhebt. Die knubbeligen Äpfel und Birnen sind roh nicht immer genießbar, eignen sich aber hervorragend für die Saftproduktion.
Mit Leitern, Eimern und Karabinern schwärmen wir aus. Wie die meisten Schreibtischtäter finde auch ich die körperliche Arbeit erst mal super, aber nur zu Beginn. Beim Birnenpflücken kommen mir die ersten Zweifel über die Kompatibilität meines Körpers mit dem Wunsch nach mehr Bezug zum Nahrungsmittel: Ich stehe bei gefühlter Windstärke zehn mit verrenktem Rumpf auf einer schwankenden Leiter. Die Birnen sind klein, der Eimer groß.
Vena zeigt uns Bewegungsabläufe, mit denen man effektiv und fruchtschonend pflückt. „Wenn man was plumpsen hört, macht man was falsch“, sagt er in meine Richtung. Mit einer von Kälte und Anstrengung erlahmten Hand schreibe ich facebook-Nachrichten. Und habe Angst, dabei erwischt zu werden. Dass ich auf einem Birnbaum den virtuellen sozialen Netzwerken fröne, ist bestimmt nicht okay, denke ich mir. Ich fühle mich weit weg von Berlin und den Bars und Cafés.
Ganz naiv bin ich ja nicht. Natürlich hatte ich eine Vorstellung von dem Arbeitsaufwand, der mit der Obst- und Gemüseaufzucht verbunden ist – aber eben nur eine theoretische. Hautnah mitzubekommen, was Landwirtschaft bedeutet, ist etwas anderes. Und es ist ja nicht nur die Ernte. Auch die logistischen Herausforderungen müssen bewältigt werden, und die Aufgaben wiederholen sich auch noch ständig: Saat, Aufzucht, Ernte, Tiere versorgen, Lieferungen zusammenstellen, neue herrenlose Bäume suchen und so weiter. Mein Respekt wächst.
Die gemeinsame Arbeit wird nur durch die Mahlzeiten unterbrochen. Die allerdings entschädigen für jede Verrenkung. Fast alle Zutaten kommen von den eigenen Feldern, wurden streng biologisch aufgezogen und gerade erst von Hand geerntet. Das Essen schmeckt nicht nur super, sondern ist bestimmt auch so gesund, dass alle Ernährungssünden der letzten Jahre aufgewogen werden.
Nach zwölf Stunden Arbeit bin ich trotzdem froh, den Hof gen Zivilisation verlassen zu können, freue mich auf eine heiße Dusche und eine echte Toilette. Als ich nach Hause komme, schaffe ich es gar nicht mehr, mich zu säubern, sondern falle sofort ins Bett. Beim Anblick meiner dreckigen Fingernägel schwöre ich mir, bei der nächsten Birne oder Tomate kurz innezuhalten, mir bewusst zu machen, wie mühselig es war, diese Frucht aufzuziehen und in meine Küche zu befördern. Mit Blick auf die rauschenden Blätter dämmere ich langsam ein und habe das Gefühl, heute wirklich etwas geschafft zu haben – Solidarität hin oder her. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 27.02.2014