Social Fashion Revolution: Oder das beseelte Kleidungsstück
Im Berliner Laden Veist wird Secondhand-Kleidung verkauft, verliehen und getauscht. Wer sich hier für ein besonderes Kleidungsstück entscheidet, erwirbt auch die Geschichte des Teils. Zwischen den Zeilen steht die Kritik an unserer Wegwerfgesellschaft.
Neukölln, Höhe Boddinstraße, U8: Veist. Vor dem Laden flattern bunte Secondhand-Stücke. Drinnen ist jeder Zentimeter ausgenutzt, aber nicht zugestellt. Die einzelnen Teile lassen sich locker identifizieren: Acid-Schal, Mohair-Jacke, Eighties-Blazer, fein gezwirbelter Blumenkranz, handgenähte Seidenbluse, Pailletten-Clutch aus den 1920er-Jahren. Auf den ersten Blick ist Veist einfach ein gut sortierter Secondhand-Shop mit einigen neuen Stücken von Jungdesignern. Aber weit gefehlt. Veist ist ein Laden gewordenes Statement gegen unsere Wegwerfgesellschaft und unser zuweilen vollkommen unkontrolliertes und irrationales Einkaufsverhalten.Die meisten von uns kennen das: kaufen, weil etwas günstig ist oder weil wir uns schlecht fühlen; kaufen, weil wir meinen, etwas Neues zu brauchen; shoppen am liebsten im Ausverkauf und gleich ganz viel. Gedanken über die Produktionsbedingungen der Kleidungsstücke verflüchtigen sich im Kaufrausch, und die Halbwertzeit der leichtfertig erworbenen Teile ist entsprechend kurz. Sie werden einmal angezogen, lösen sich nach dem ersten Waschgang in ihre Bestandteile auf, gefallen doch nicht mehr so gut oder passen zu nichts. Und das Habenmüssen geht von vorne los. Dabei landen Unmengen von Kleidungsstücken jährlich auf dem Müll, in zweifelhaften Containern oder verschwinden einfach in den Untiefen unserer Kleiderschränke. Einkaufsbulimie.Veist hält dagegen und bietet Langlebigkeit, Nachhaltigkeit und Fair Trade statt Fast Fashion. Keine „cheap thrills“, sondern Qualitätskleidung, die lange durchhält. Die Besitzerinnen des Ladens, Anna Veit und Sandra Diana Troegl, interessieren sich schon lange für fair produzierte und nachhaltig nutzbare Kleidung. Kennengelernt haben sie sich, als sie zusammen für Armed Angels arbeiteten. Bei dem Label für (neu produzierte) ökologische Kleidung gestaltete Veit die Schnitte, Troegl war für die Vermarktung zuständig.Veit entwirft auch jetzt noch, aber nur noch für sich, oder für Veist. Sie setzt auf klare Linien, einen hochwertigen Materialmix und – natürlich – gute Verarbeitung. Ihr Anliegen ergab sich für sie ganz von selbst. „Ich gehöre zu denjenigen, die sich in Klamotten oder Accessoires richtig verlieben und dementsprechend traurig sind, wenn ein Lieblingsteil kaputt geht“, erklärt Anna Veit die Beziehungskiste. In ihrem Geschäft möchte sie die bestmögliche Qualität anbieten, damit man die Teile jahrelang tragen kann; sie will explizit keinen Beitrag zur Wegwerfgesellschaft leisten.Sandra Troegl übt sich momentan in der Beschränkung. Sie hat so viele Klamotten, dass sie kein weiteres Stück braucht. Anlässlich der Aktion „Six Items Challenge“ trägt sie vier Wochen lang nur sechs Teile – Unterwäsche, Schuhe und Accessoires ausgenommen. „Teil eins der sechs, mein schwarzes Seidentop, beginnt schon, sich aufzulösen“, berichtet Troegl. Hat man weniger, ist auch der Verschleiß tragischer. Verarbeitung und Qualität des Materials sind auf einmal wieder richtig wichtig – nicht Marke, Preis oder Style-Faktor.Das Konzept der beiden Geschäftsfrauen ist ähnlich reduziert. Einfach, aber gut durchdacht betrifft es sämtliche Ebenen des Handels: Ankauf, Verkauf, Verleih und Tausch – alles fair. Gebrauchte Ware wird bei Veist in Kommission genommen, ebenso die neu produzierten Designerstücke. Um für die Kollektion in Frage zu kommen, muss die Kleidung fair produziert, gut verarbeitet und aus beständigem Material sein. Bestimmte Labels scheiden von Vornherein aus, weil über deren Wertschöpfungskette und Arbeitsbedingungen hinreichend Gruseliges bekannt ist.Was neben der Qualität bei Veist ebenfalls zählt, ist die einzigartige Geschichte eines jeden Kleidungsstücks. So lautet der volle Name des kleinen Geschäftes auch Veist Kleidergeschichten – Vintage, 2nd Hand & New. „Dieses Teil hat im Palast der Republik getanzt“, erklärt Sandra Troegl und zeigt ein schwarz-goldenes bauchfreies Top. Wenn diese Vergangenheit mal kein Extra ist. Die Stücke seien beseelt, findet Troegl, sie hätten eine Aura. Wenn Aura bedeutet, dass eine Sache durch einen bestimmten Gebrauch, durch bestimmte Besitzerinnen einen höheren Wert erhält, dann gibt es bei Veist viele solcher auratischen Einmaligkeiten. Zum Beispiel eine Hose mit einem Zettel, das sie einer bestimmten Rolle in einem Theaterstück zuordnet, angetackert an den Bund, aus einem Istanbuler Requisitenverleih (was die alles erlebt hat!), oder das handgenähte Kostümchen einer ehemaligen italienischen Botschaftergattin, aus feinstem Stoff. In den ist die Nummer des Schneiders eingestickt (ob sie ihn je zurückgerufen hat?). Oder auch die aufwändig von Hand bestickte Pailletten-Jacke aus dem Bestand einer Frau, die mit knapp 80 Jahren nach Amerika auswanderte und sich vor ihrer Abreise von allen in Deutschland erstandenen Dingen trennte. Die „Kleidergeschichten“ sind auf der Shop-Webseite zu finden, hängen an kleinen Schildchen am Kleidungsstück oder können direkt im Laden bei Sandra Troegl erfragt werden. Oral History über die Ladentheke.Ausgewählte Stücke werden nur verliehen, so dass sich so viele Kundinnen wie möglich immer wieder daran erfreuen können. Das sind vor allem Vintage-Sachen. Und die sind gefragt, erzählt Troegl; sie werden sogar für Fotoshootings ausgeliehen. Dabei bleiben die Leihstücke Gebrauchsgegenstände, die sich abnutzen dürfen. Wie der weiße, mit Steinchen und Figürchen besetzte Gürtel, den Troegls Mutter mal in Texas gekauft hat. Bei jedem Fotoshooting verliert er ein Teil. Nicht weiter schlimm – für den Gürtel gilt, je „abgerockter“, desto besser.Ganz zeitgemäß unternehmen die Veist-Besitzerinnen erste Versuche mit nicht-monetären Klamotten-Bezugssystemen: regelmäßig stattfindende Swap-Parties oder die Tauschbox im Laden, der nach Bedarf Kleidung gestiftet oder entnommen werden kann. Und wenn eine Kundin doch lieber mit Geld statt mit Materialien bezahlen möchte, ist das auch okay. Das wird dann gespendet, an zwei soziale Organisationen im Neuköllner Kiez. Es scheint, als würden hier alle gewinnen: Designerinnen, Käufer und natürlich auch die Ladenbesitzerinnen.Mittlerweile hat sich das Konzept herumgesprochen: Leute kommen aus der Nachbarschaft, aus anderen Berliner Bezirken (sogar aus Mitte!), oder sie reisen speziell aus allerlei anderen Städten an. Das Kaufen bei Veist ist eben kein Fest des Materialismus, des Haben-Wollens, des Kaufdrang-Befriedigens. Vielmehr steuern die Ladenbesitzerinnen subtil den Konsum, indem sie besondere Dinge anbieten, die im besten Fall zu einem neuen Lieblingsstück werden. Passt etwas nicht wirklich, ist die Kundin unschlüssig, sind die Ärmel zu puffig oder die Taille zu hoch, ja, wirkt die Farbe zu grell, so fordern Veit und Troegl dazu auf, den Kauf nochmal zu überdenken. Man soll sich ja schließlich möglichst lange an den Sachen erfreuen. Ganz ehrlich.
FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 01.11.2013