Vielfalt statt Einheitsbrei Ausgerechnet im schicken Wiesbaden hält das Café Klatsch mit links-alternativen Wurzeln seit fast 30 Jahren die Stellung. Im Gastronomiekollektiv setzt man auf selbstbestimmte Arbeit statt totale Dienstleistung.
Sonntagnachmittag vor dem Café Klatsch, Wiesbaden. Unter den Club-Mate-Schirmen (keine Coca-Cola, ist klar!) kann man es aushalten, und das ist auch gut so. Denn je nachdem, wer gerade bedient, könnte es entweder ganz schnell gehen mit der Bestellung, oder aber etwas länger dauern. Aus den deckenhohen Fenstern der Gründerbauvilla weht Musik herüber. Schrammelgitarren, scheppernder Gesang: passend für den Ausklang des Wochenendes. Das Klatsch ist das Gegenmodell zum immer verbreiteteren Ansatz in der Gastronomie, schön rund daherzukommen: Lokale stimmen heutzutage die Speisekarte mit der Einrichtung ab (Fusion Food schreit beispielsweise nach einer kühlen bis minimalistischen Inneneinrichtung, während das Schnitzel am besten mit einem urigen Interieur korrespondiert), schwören die Bedienung ebenfalls auf das Gesamtkonzept ein (Schweinsbraten im Dirndl gefällig?) und beschränken ihre Lebensdauer dabei auf die Laufzeit des jeweiligen Trends. Das Café Klatsch, ein links-alternatives Café mit abendlichem Kneipenbetrieb, ist da wesentlich nachhaltiger. Seit fast drei Jahrzehnten hat es seine Heimat im Erdgeschoss einer Gründerzeitvilla. Gemütlich, mit drei Meter hohen Decken, durchgehendem Parkett, Sofas, Podesten und zusammengewürfelten Tisch-Stuhl-Ensembles: teilweise selbstgebaut, häufig überstrichen, mit letzten Überbleibseln links-alternativer Inneneinrichtung.Und das mitten im Wiesbadener Rheingauviertel, einem besonders eleganten Teil der beschaulichen Kurstadt, mit hoher Dichte an Bonzen und Prominenz. Wiesbaden ist eines der teuersten Pflaster Deutschlands, mit repräsentativen Wohnhäusern, Hotelpalästen und Villen, soweit das Auge reicht. Man ahnt es schon: hier steppt nicht der Bär, sondern alternde Kurgäste, Touristen und Leute mit Geld. Das Kulturprogramm ist dementsprechend weichgespült, die Lokale durchgestylt. Das studentische Leben, die nächste Universität ist immer eine Stadt weiter.Wiesbaden ist nicht gerade ein Nährboden für alternative Bewegungen, hat aber den Vorteil, dass Gleichgesinnte sich schnell finden. Ein solcher Ort der Begegnung ist auch das Café Klatsch, das 1984 von Startbahn-West-Gegnern, Leuten aus der Hausbesetzerszene und Autonomen (ja, die gab es auch in Wiesbaden!) gegründet wurde. Damals sollte der Gastronomiebetrieb politische Aktionen und Projekte finanzieren, heute versteht er sich vor allem als Enklave für selbstbestimmte Arbeit und Kapitalismuskritik.Im Klatsch geht es also nicht um glänzende Oberflächen und das Bedienen von Erwartungshaltungen, sondern um selbstbestimmte Zusammenarbeit. Dazu gehören die Absage an Hierarchien, der gleiche (leider niedrige) Stundenlohn und das gleiche Mitspracherecht für alle. Denn hinter dem Laden steht kein Einzelner mit Lizenz zum Tonangeben, sondern ein Kollektiv aus derzeit ca. 15 Leuten unterschiedlichen Alters. Die sind nicht nur das Personal des Cafés, sondern auch gemeinsam verantwortlich für alle Belange, die das Klatsch betreffen. Jeden Montag besprechen sie im Plenum alle Themen, die einer Entscheidung bedürfen. Die Teilnahme ist verpflichtend, und „es ist gar nicht gut angesehen, wenn man das Plenum schwänzt“, so Sebastian Horstkotte, seit 2004 Mitglied des Klatsch-Kollektivs.Alle Aufgaben – vom Blumengießen bis zur Buchhaltung – werden gerecht verteilt. Auf Präferenzen Einzelner wird dabei zwar Rücksicht genommen, aber bei den ungeliebten Arbeiten wie Putzen muss jeder mal ran. Aus dieser Praxis ergeben sich natürlich jede Menge Meinungsverschiedenheiten. Die werden im Klatsch aber nicht unter den Teppich gekehrt, sondern so lange ausdiskutiert, bis es (irgendwann) zum Konsens kommt. Reibungsfläche statt Weichspülgang.Die gelebte Vielfalt ist nicht nur eine logistische Herausforderung, sondern führt auch dazu, dass immer mehrere Köche im Brei herumrühren: Auch das Essen wird nämlich von demjenigen zubereitet, der gerade da ist. Die Speisekarte bietet so von allem etwas, Gerichte quer durch die internationale Küche. Auf den Tisch kommen so viele Bio-, Fairtrade- und regionale Zutaten wie möglich, dabei sollen die Gerichte noch bezahlbar sein. Die je nach Kochdienst anders ausfallenden Speisen werden vom passenden Soundtrack begleitet. Denn auch hier gilt: Wer Schicht hat, bestimmt, was aufgelegt wird.Das führt nicht nur zu Dauerdiskussionen über Musikgeschmäcker, sondern im schlimmsten Fall zur Vertreibung von Gästen, wenn sich beispielsweise stillende Mütter von lautem Deutschpunk gestört fühlen. Solche Unstimmigkeiten werden zugunsten des kollektiven Zusammenhalts in Kauf genommen: „Wenn jemand glaubt, dass diese Musik sein Lebensgefühl ausdrückt, dann kann ihm das keiner verbieten“, meint Horstkotte, auch wenn einmal empörte Kundinnen vielleicht nie wiederkommen. Im Klatsch wird „man eben nicht von Maschinen bedient, sondern von Menschen“. Die Bedienung ist zu 100 Prozent gefühlsecht: Wenn jemand gefrustet ist, kränklich oder besonders gut drauf, merken das auch die Gäste.Dienstleistung wird im Café Klatsch eher als Begegnung auf Augenhöhe definiert: „Als Gast hast du Rechte, aber auch Pflichten“, fasst Sebastian Horstkotte zusammen. Rassistische oder sexistische Sprüche sind zum Beispiel nicht klatschkompatibel. Und Anfragen von RTL und anderen Privatsendern, die das Café als Kulisse für ihre Soaps mieten wollten – weil hier alles so schön authentisch wirkt –, wurden vehement abgelehnt. Auch wenn das Geld in die Kasse gespült hätte. Wann das Maß voll und Bedienungsverweigerung angesagt ist, bestimmt dabei jede Einzelne – kann sich aber in den meisten Fällen sicher sein, dass die Kollektivisten hinter ihr stehen. Kriterium für den Einstieg in die Klatsch-Belegschaft ist deshalb auch nicht gastronomische Erfahrung, sondern die Bereitschaft, sich auf die kollektive Arbeitsform einzulassen.Erstaunlich: Was wie ein Relikt aus einer anderen Zeit wirkt, funktioniert. Flexibilität und Mut zur Veränderung (heutzutage eigentlich Schlagworte neoliberaler Selbstoptimierung) ergeben sich im Café Klatsch aus der internen Diskussionskultur. „Betriebsblind wirst du hier nicht“, ist sich Horstkotte sicher, „weil bei zehn Leuten die Wahrscheinlichkeit viel höher ist, dass jemand mitbekommt, wenn was falsch läuft.“ – Weil alle sich verantwortlich fühlen und bereit sind, die eigene Meinung auch zu vertreten.Das Rezept hat sich bewährt. Das Café Klatsch hat sich – trotz seines zeitweise großen Potentials, das Schubladendenken zu bedienen – immer weiterentwickelt: vom etwas chaotischen Treffpunkt linker Aktivisten, der vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, zum kollektiv geführten Kiezlokal mit gemischtem Publikum, Stammgästen, einer festen Speisekarte und einer gut dosierten Prise Unberechenbarkeit. Einmal hineingesunken in die durchgesessenen Sitzmöbel möchte man nie wieder aufstehen. Und muss es auch erstmal nicht. Man hält sich an seinem Getränk fest, gerne auch ein paar Stunden lang, und wartet ab, was noch so passiert. Ganz entspannt und ohne falschen Perfektionismus. FUTURZWEI. Stiftung Zukunfstfähigkeit am 24.10.2013