Dem Schwein in die Augen schauen Im Ballungsraum des Rhein-Main-Gebiets liegt zwischen Mensch und Natur eine Menge Asphalt. Im gemeinnützigen Landwirtschaftsbetrieb Domäne Mechtildshausen finden verstädterte Konsumenten eine Insel in grün.
Wo eine Stadt aufhört und die nächste beginnt, ist schwer auszumachen. Das Rhein-Main-Gebiet ist ein dicht besiedelter Ballungsraum. Wälder, Wiesen, Flüsse und Seen wurden in dieser Region besonders rücksichtslos zurückgedrängt, begradigt und kultiviert. Heute ist die Landschaft zusammengestutzt auf einen Flickenteppich aus bewirtschafteten Feldern, durchpflügt und begrenzt von Autobahnen, Schnellstraßen, Städten, Flughafenausläufern und bebauten Randgebieten.
Die meisten Menschen hier sind in urbanen Strukturen sozialisiert, ohne Beziehung zur Landwirtschaft, und das bereits seit mehreren Generationen. Im „Grünen“ sitzt man schon zwischen ein paar Topfblumen oder im Schrebergärtchen. Wie Obst und Gemüse angebaut werden, wissen die wenigsten, und beim Gedanken, ein Tier vor dem Verzehr selbst auszunehmen oder gar zu schlachten, wendet man sich angewidert ab.
Dass der direkte Naturbezug schon länger verkümmert ist, hindert nicht das Wachstum eines ökologischen Bewusstseins. Auch hier beginnen Städter und Vorstädterinnen, sich dafür zu interessieren, wo ihre Nahrung herkommt. Biosupermärkte locken immer flächendeckender mit Ökogemüse, Neuland-Rind, Vollkornbrötchen und den anderen üblichen Verdächtigen. Bei aller Bio-Etikette: Das Prinzip Supermarkt taugt wenig, wenn es um die konkrete Beziehung zum Nahrungsmittel geht. Denn regionale Verankerung macht für Großmärkte nur wenig ökonomischen Sinn. So stammen auch Bioprodukte meist aus Zentrallagern. Angestellte sind, nicht anders als in konventionellen Supermärkten, dafür da, die Kasse zu bedienen, aber nicht, um Fragen zum Produkt zu beantworten. So muss die Ware selbst auskunftsfähig sein und bestimmten (optischen) Anforderungen genügen: Misfits werden aussortiert, die Eier müssen Normgewicht aufweisen. Produziert, geerntet und geschlachtet wird immer anderswo.
Der Städter hat also ein Problem: Er verspürt nicht den geringsten Drang, seinen urbanen Lebensraum zu verlassen, um in Sachen Landwirtschaft selbst aktiv zu werden. Trotzdem möchte der korrekte Biomarktkäufer aber exakt nachvollziehen können, was da auf seinem Teller landet. Diese doch disparat anmutenden Bedürfnisse sucht die Domäne Mechtildshausen vereinbar zu machen. Das Landgut liegt direkt neben dem Militärflugplatz der US Army in Wiesbaden-Erbenheim. Was sich aber hinter seinen alten Hofmauern verbirgt, könnte als Kulisse für den nächsten ZDF-Herzkino-Film herhalten: der zusammenhängende Gebäudekomplex des alten Bauernguts aus Backstein ist von Efeu umrankt und schließt sich um einen großen Innenhof; der ist anheimelnd mit Blumen und Kräutern bepflanzt und mit Sitzbänken versehen.
All das ist aber nicht nur schön anzusehen, sondern verbindet gleich zwei nachhaltige Projekte. 1987 wurde die Domäne von der Wiesbadener Jugendwerkstatt gepachtet, um einen gemeinnützigen Verein zur Aus- und Weiterbildung von Jugendlichen und Arbeitssuchenden zu gründen. Die biologische Landwirtschaft war zunächst nur Vehikel für das Ausbildungsprogramm, gestartet wurde mit einigen wenigen Obst- und Gemüsesorten. Heute beherbergt die Domäne Mechtildshausen nicht nur Ausbildungsprogramme für die verschiedensten Berufe, sondern nun wird auch produziert, verarbeitet und verkauft, was das verstädterte Konsumentenherz begehrt: Brot und Kuchen, Milchprodukte, Wurst- und Fleischwaren, Obst, Gemüse, Saft und Wein. Und als wäre das noch nicht genug, ist die Domäne auch noch ein Hotelbetrieb mit Gastronomie.
Über die Jahre ist die Domäne Mechtildshausen in ihrer Umgebung zum Garant für transparente Nahrungsmittelproduktion geworden. Denn hier findet auf einem Hof statt, was anderswo ausgelagert und in einzelne Arbeitsschritte unterteilt wird: der Ackerbau, die Tieraufzucht, die Weiterverarbeitung und der Handel von Lebensmitteln. Ganz klar, dass die Nutzpflanzen nach biologisch-organischen Grundsätzen angebaut und die Tiere artgerecht aufgezogen, gehalten und gefüttert werden. „Und das Vertrauen ist riesengroß“, erklärt Thomas Dosch, Betriebsleiter der Domäne, „egal, ob Dioxin-Skandal, BSE oder Pferdelasagne, hier stehen die Leute besonders dann Schlange, wenn sie verunsichert sind.“
Dosch hat die Leitung des ungewöhnlichen Betriebs vor zwei Jahren übernommen und ist die ideale Besetzung an der Schnittstelle zwischen Stadt und Land: Seit seinem Studium der Agrarwissenschaft sucht er nach Wegen, zusammenzubringen, was heutzutage kaum noch zusammengedacht wird. Sei es als Berater für landwirtschaftliche Projekte in Afrika, als Agrarreferent für die Evangelische Landeskirche, oder in der Lobbyarbeit für Bioland: Thomas Dosch hat immer versucht, die unterschiedlichsten Parteien an einen Tisch zu bekommen, um einen Dialog und gegenseitiges Verständnis anzustoßen. Dosch organisiert selbstbestimmte, aber in die Gemeinschaft eingebundene Landwirtschaft.
Allerdings: als landwirtschaftlicher Produzent beweglich zu bleiben, ist in unseren Zeiten nicht leicht. So müssen die Bedürfnisse verwöhnter Kunden nach nicht-saisonalen oder nicht-regionalen Produkten hin und wieder befriedigt werden. Gleichzeitig schränken EU-Normen und -Richtlinien die Handlungsfreiheit ein. Die Hygieneauflagen für Schlachtungen beispielsweise orientieren sich an Lebensmittelproduzenten wie dem Thönes Natur_Verbund, der pro Stunde (!) 1.300 Rinder schlachtet. Auf der Domäne Mechtildshausen sind es 22 in der Woche.
Die Balance zwischen diesen Anforderungen beherrscht die Domäne perfekt: Sie kauft zwar Produkte zu, aber nicht vom Großanbieter, sondern vor allem bei kleinen Bio-Betrieben, mit denen feste Kooperationen vereinbart sind. Die Auflagen der EU zur Schlachtung muss Dosch erfüllen, setzt aber gleichzeitig auf den Menschen, „der dem Tier vor der Schlachtung noch mal in die Augen sieht“, ohne entfremdete Maschinerie, Transporte oder unnötigen Stress für Rind, Ziege, Schwein oder Huhn.
Von Normierungstendenzen bedroht ist auch die Vielfalt in der Tierzüchtung. Die wird von der Lebensmittelindustrie massiv beeinflusst: „Hühner werden designt wie Autos“, erklärt Dosch, „ihr genetisches Material wird daraufhin getuned, dass sie Hochleistungsfutter vertragen und auch im Käfig Eier legen.“ Hennen sind zu spezialisierten Akkordarbeiterinnen geworden, die nach einem Jahr, ausgemergelt und entkräftet, nur noch für die Resteverwertung taugen. Dem hält die Domäne mit einer eigenen Züchtung entgegen, der sportlichen Legehenne „Domäne Gold“. Die tummelt sich im Freien neben vom Aussterben bedrohten Haustierrassen wie dem „Lachs-Huhn“ oder dem „Bunten Bentheimer“, einem gescheckten Schwein.
Bei aller Identifikation der vielen Besucher mit der Domäne Mechtildshausen, sämtliche Berührungsängste zwischen Stadt und Land, Konsument und Produkt kann auch sie nicht abbauen. Ein bisschen Distanz fordert der Städter noch immer ein: Dem Schwein, das er verzehrt, in die Augen zu sehen, das Suppenhuhn selbst zu rupfen oder den Salat aus morastigen Feldern zu bergen, überlässt er weiterhin lieber Dosch und seinen Leuten. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 02.08.2013