Aus der Blase ins Atelier Anke Trischler lebte ein Leben mit Jetset und schnellem Geld. Heute steckt sie ihre Energie in ökologische und sozial-integrative Projekte. Mit ihrer Upcycling-Tasche Lilybag möchte sie die Plastiktüten aus ganz Europa verbannen.
„Ich habe zu schnell zu viel Geld verdient“, sagt Anke Trischler. Mit Anfang dreißig stand die gelernte Industriekauffrau ganz oben auf der Karriereleiter. In der Chefetage einer Frankfurter Bank jonglierte sie 60 Stunden die Woche mit abstrakten Werten und flog rund um den Globus. Ihre sozialen Kontakte waren ihre Kollegen. Wenn sie ihre Sache gut machte, wurde sie von der Bank belohnt. Das hielt sie bei der Stange. Überstunden und Boni formten eine Parallelwelt: „Man lebt in einer Blase, entfremdet vom normalen Leben und den Menschen, die etwas anderes tun, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen“, reflektiert die mittlerweile 48-jährige Trischler heute. Außerhalb dieser Blase wusste sie kaum noch etwas mit sich anzufangen. Freitagabends fiel sie in ein Loch.
Wenn der Adrenalinspiegel sank, regten sich die Zweifel an Sinn und Zweck ihrer Karriere. Trischler begann bald aktiv nach etwas zu suchen, das ihr Abstand vom Alltag in der Bank verschaffte. Sie fand zu Alfred Adlers Individualpsychologie und begann berufsbegleitend zu studieren. „Das Studium hat mir geholfen, die Dinge wieder in Relation zu setzen“, weiß sie heute. Aus dieser Perspektive erschien Trischler das Bankwesen plötzlich wie ein „Kindergarten, in dem sich die Großkopferten ihren Ränkespielen hingaben“.
Ende der 1990er-Jahre war ihr klar: Sie musste raus aus dem Geschäft. Im Jahr 2000 schaffte Trischler den Absprung und kehrte der Bankenwelt den Rücken. Sie ging zu einer internationalen Unternehmensberatung und ließ sich von dort nach Berlin abwerben, an die Spitze eines großen IT-Unternehmens. Aber auch hier hatte sie schnell das Gefühl, vor allem „Akten auf dem Schreibtisch hin und her zu schieben“. Ihr fehlte etwas Konkretes, Sinnstiftendes.
Mit 40 hing sie ihre Karriere dann erst einmal komplett an den Nagel und folgte ihrem Ehemann nach Wiesbaden. In der hessischen Großstadt schaltete Trischler ein paar Gänge runter und probierte all das aus, wofür sie nie Zeit gehabt hatte. Als sich die Gelegenheit bot, ließ sie sich von einer pensionierten Kostümbildnerin in die Geheimnisse des Näh-Handwerks einweisen. Eine einschneidende Erfahrung für die ehemalige Bankerin: Die Arbeit an der Nähmaschine, die Kopf, Hände und Füße gleichermaßen beanspruchte, gaben ihr „das wohlige Gefühl, das man etwas fertig bekommt und das auch direkt sichtbar wird“, erinnert sie sich.
Zeitgleich besann sich Trischler ihrer kaufmännischen Fähigkeiten, die sie vor der Bankkariere von der Pieke auf gelernt hatte und gründete ihr eigenes Unternehmen: den Wiesbadener Salon, der als Co-Working-Initiative Selbstständigen ein virtuelles und reales Dach bieten sollte, um gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Als sie sich dort eines Tages den Kopf über ein Qualifizierungsprogramm zerbrach, das Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenbringen sollte, fiel ihr das Näherlebnis wieder ein. Denn Nähen „wird von fast allen Leuten auf der Welt verstanden. Es verbindet einfach!“ Aus dem Geistesblitz brachte Trischler die Initiative Atelier Culture hervor, die Frauen mit und ohne Migrationshintergrund in einer „Gläsernen Manufaktur“ zu Stich-Expertinnen ausbildet. Wenn sie zum Arbeiten zusammensitzen, sprechen alle fließend deutsch, freut sich die Gründerin.
2010 wurde das Atelier Culture als Ausgewählter Ort im Land der Ideen ausgezeichnet, worauf 2011 ein Preis der Ideen-Initiative Zukunft folgte. Der Erfolg war für die umtriebige Unternehmerin aber kein Grund sich auszuruhen. Die nächste Geschäftsideeließ nicht lange auf sich warten und war wieder Ergebnis einer plötzlichen Erkenntnis. Eine der Alu-Kaffeeverpackungen aus dem Bistro nebenan war irgendwie zu schön zum Wegzuwerfen und landete kurzerhand unter Trischlers Nähmaschine. Das fertige Stück, eine robuste Tasche, wurde ihr bei einer Näh-Aktion im Drogeriemarkt prompt abgekauft. Ebenso prompt rief Trischler daraufhin das Upcycling-Projekt Rething ins Leben.
Seit dieser ersten Zweckentfremdung von Müll erstehen totgesagte Materialien im Atelier Culture reihenweise wieder auf – in neuer Form: als handgenähte Taschen, Mäppchen, Portemonnaies, Rucksäcke oder Tablet-Hüllen. Die Unikate sind robust, aber auch detailverliebt gestaltet – je nach Charakter, den der verwendete Stoff mitbringt. In der Produktion wurde dank Trischlers inzwischen großem sozialen Netzwerk gleich eher geklotzt als gekleckert; die meisten Rethings geben Firmen und Organisationen in Auftrag.
Die größeren Stückzahlen erfordern natürlich ständig neue Stoffreste. Als Trischler eines Tages am Kurhaus Wiesbaden vorbeifuhr, fiel ihr ein großes Werbebanner auf, das auf die nächste Veranstaltung hinwies. In ihren Augen: riesige Textilbahnen mit klarem Verfallsdatum. Ist das Event vorbei, landen sie im Müll. Kurzerhand machte sie sich auf die Suche nach den Verantwortlichen und fragte, ob diese ihr die ausgedienten Werbeträger überließen, um daraus Rethings zu fertigen. Nach einer Odyssee durch die Institutionen und viel Überzeugungsarbeit war der Groschen bei der Stadt endlich gefallen. Die pensionierten Fahnen landen nun regelmäßig in Trischlers Atelier.
Eine der Spenden, die ihren Weg in den Näh-Salon fand, zierten drei goldene Lilien auf blauem Grund. Das Wiesbadener Wappen inspirierte Trischler zur Idee der Lilybags. Die praktischen und langlebigen Taschen sind nicht nur modisches Accessoire, sondern schlagen mehrere Fliegen mit einer Klappe: Sie reduzieren das Müllaufkommen, ihre Produktion schafft niederschwellige Arbeitsplätze, und sie tragen dazu bei, den Plastikmüll der Stadt zu reduzieren – einfach indem die Leute beim nächsten Supermarktbesuch auf die Wegwerftüte verzichten und ihre Einkäufe lieber in der hübschen Mehrweg-Lilybag nach Hause tragen.
Aber damit immer noch nicht genug! Trischler denkt global und möchte Wiederverwertung im großen Stil salonfähig machen. Ihr Ziel: all die Plastiktüten, die in Wiesbaden und anderswo täglich verkauft und verschenkt werden, komplett zu ersetzen. Die Idee kommt zumindest in der hessischen Hauptstadt schon mal gut an. 2014 bekam die Lilybag den Wiesbadener Umweltpreis verliehen. Das hat nicht nur ideellen Wert. Denn seit der Auszeichnung ist die Nachfrage gestiegen: „Die Industrie- und Handelskammer Wiesbaden hat zum Beispiel aus ihren Wahl-Werbefahnen 500 Lilybags fertigen lassen, um diese bei ihrer 150 Jahre-Jubiläumsfeier an Ehrengäste zu überreichen“, nennt Trischler stolz ein Beispiel. Weil die Taschenproduktion steigt, können sich auch die Näherinnen im Atelier Culture etwas dazuverdienen. Auftragsarbeit für Umweltschutz und Integration.
Ob die Lilybag alle Plastiktüten in Wiesbaden – und danach in ganz Europa – ersetzen kann, muss sich zeigen. Anke Trischler ist geduldiger geworden. Sie hat dazugelernt und setzt heute auf langsames Wachstum, statt spekulative Luftschlösser zu bauen. Nach jahrelanger Entfremdung ganz bei sich angekommen, bleibt sie am Boden und setzt Projekte um, die ineinandergreifen und Menschen zusammenbringen. Raus aus der Blase, rein ins echte Leben. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 19.03.2015