Fehler im System
Wiederaufbau und Wirtschaftswunder – das waren die Schlagworte der Nachkriegszeit. Es ging aufwärts. In den 1950er-Jahren wurde der Schweinsbraten für alle erschwinglich, in den Sechzigern qualmte die Aufschwungzigarre in Erhards Mund fröhlich weiter. Und auch wenn die erste ernstzunehmende Krise schon ein Jahrzehnt später eintraf, wirken die rosigen Erfahrungen bis heute nach. Wirtschaftliches Wachstum wird ungebrochen positiv konnotiert, wenn es nicht von allein kommt, wird es per Gesetz beschleunigt. Alles andere wäre kein Fortschritt, sondern ein Schritt zurück.
Das herrschende System scheint alternativlos, seine Erzählung zu hinterfragen, haben wir nicht gelernt. Jeden Tag hantieren wir mit Geld, legen es an, stützen damit eine Ökonomie, die uns als die einzig mögliche erscheint, deren Funktionsweisen wir aber kaum durchschauen. Auch bei Anna-Lisa Schmalz, Mitbegründerin der Regionalen Wirtschaftsgemeinschaft ReWiG, dauerte es lange, bis das Unbehagen kam, das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimme.
Immer stärker wurde ihr bewusst, dass die Wirtschaft einer gewaltigen Fehleinschätzung unterliegt. Denn das Versprechen des Kapitalismus Wohlstand für alle zu schaffen, ist weiterhin an die Vorstellung geknüpft, dass die Wirtschaft immer weiter wachsen wird. Dies ist, so Schmalz, aber ein Zirkelschluss, der Fehler und Gefahren vertuscht, ebenso wie er die Vorstellung von einer einzigen möglichen Wahrheit transportiert.
„Nur weil alle dieser Meinung sind, muss das noch lange nicht richtig sein“, dämmerte es der Münchnerin. Mit ihrem damaligen Partner Tim Reeves begann sie, Alternativen zu diskutieren. Die Informatikerin und Mathematikerin näherte sich der Sache analytisch: „Wenn ein System nicht funktioniert, dann ist eine Regel falsch programmiert.“ Das hieße dann aber auch: man kann die Regel umprogrammieren. Eine einfache Feststellung, die aber an Welt- und Wertvorstellungen rütteln kann.
Das, woran Schmalz und Reeves zuerst rütteln wollten, war nicht die Wirtschaft im Allgemeinen, sondern die Rolle des Geldes im Speziellen. Geld sei heute der universelle Indikator, um wirtschaftliche Erfolge und Niederlagen zu messen. Und das, obwohl Geld schon lange nicht mehr durch reale Werte gedeckt ist und Wohlstand etwas anderes bedeutet als Wohlbefinden, so Anna-Lisa Schmalz. Gesundheit etwa sei kein gut messbarer Wert, gibt sie ein Beispiel. Bald hatte das Paar auch ausgemacht, dass einer der Hauptantriebskräfte der Fehlentwicklung fest in unserem Geldsystem verankert ist: der Zins. Der flößt Vertrauen ein wie ein alter Bekannter; er vermehrt ja unser Geld. Doch sorgt er auch dafür, dass die, die sich Geld leihen müssen, mehr als das Geliehene erwirtschaften müssen, um es zurückzuzahlen – er setzt Wachstum voraus.
Die Lösung lag für Schmalz und Reeves auf der Hand: Eine alternative Währung musste her. 2010 entwickelten sie den Realo, eine immaterielle, euro-unabhängige und komplett zinsfreie Währungseinheit. Damit kann seit 2012 auf einem virtuellen Marktplatz für Leistungen und Produkte bezahlt werden. Der Realo kommt zu seiner Existenz im Moment des Tauschens, also wenn er als Minus auf dem Realo-Konto des Käufers oder als Plus auf dem der Verkäuferin sichtbar wird. Käufer und Verkäuferin eines Gegenstandes, eines Produktes oder einer Dienstleistung bringen den Realo erst durch seinen (Tausch-)Wert zur Blüte.
Geltungsbereich und Heimat des Realo ist die Regionale Wirtschaftsgemeinschaft ReWiG. 2011 von Anna-Lisa Schmalz und Tim Reeves gegründet, gibt sie außerdem Genussrechte in Euro heraus. Die kann jede Person erwerben, und sie werden von der ReWiG in Unternehmen investiert, die ökologisch, ökonomisch und sozial wirtschaften. Maßgeblich sind dabei die Kriterien der Gemeinwohlökonomie. Neben der regionalen Verteilung von Investitionen über Realo und Genussrechte geht es bei der ReWiG vor allem darum, einen Raum zu schaffen für solidarisches Wirtschaften durch Kooperation statt Konkurrenz. Die Opposition zu den bestehenden Verhältnissen steht dabei nicht im Zentrum, die Frage lautet stattdessen: Wo können wir innerhalb des Systems Spielraum schaffen, handlungsfähig zu werden und zu bleiben? Die Handlungsfähigkeit der ReWiG selbst nährt sich aus der Gemeinschaft. Die Mitglieder können die Geschicke der Genossenschaft aktiv gestalten, sie sind in alle Entscheidungsprozesse eingebunden.
Was heute als eine regionale Gruppe ReWiG München heißt, war die Keimzelle des Projekts. Aus dem Kern sind mittlerweile zwei weitere Regionale Wirtschaftsgenossenschaften im Allgäu und in Schlehdorf erwachsen. Vom Schwung des Gründungsjahres ist in der Mutter-ReWiG allerdings einiges verloren gegangen. In den letzten zwei Jahren sind kaum neue Mitglieder hinzugekommen, und auch der Kreis der Aktiven hat sich verkleinert. Der Versuch, die aktive Beteiligung zu fördern, indem man nach dem Vorbild der ReWiG-Gruppe Allgäu Kernteamtreffen einführte, hat in München nicht gefruchtet.
Auch die Grundsatzdebatten zwischen den verschiedenen regionalen Genossenschaften werden noch eine Weile andauern. Viele Fragen bleiben ungelöst, die Arbeitsweisen unterscheiden sich. Die ReWiG Allgäu beispielsweise hat die Tauschwährung um ein Punktesystem für gemeinwohlorientierte Arbeit ergänzt und entschieden, dass die Punkte gegen Realos getauscht werden können. Doch hat dies das Problem aufgeworfen, dass für einen solchen Tausch von Arbeit gegen Geld Steuern fällig werden und eine Sozialversicherungspflicht für die ReWiG entstehen kann. Beide Beträge müssten allerdings in Euro gezahlt werden. Weil in den Projekten selbst aber keine Euro erwirtschaftet werden, steht eine rechtlich saubere und finanziell tragbare Lösung noch aus.
Solch Ärger wird bei der ReWiG nicht unter den Teppich gekehrt, sondern auf Vorstands- und Mitgliederversammlungen thematisiert. Manchmal sind die Meinungsverschiedenheiten unüberbrückbar: Tim Reeves hat die Konsequenz gezogen, seine aktive Arbeit einzustellen. „Das hat natürlich Wellen geschlagen“, bedauert Schmalz. Für die ReWiG-Gründerin sind solche Erfahrungen dennoch keine Rückschläge. Sie sieht ihre Arbeit als work in progress und hat gelernt, mit Schwierigkeiten und auch mit persönlichen Zerwürfnissen umzugehen. Sie wünscht sich vor allem eine lebendige ReWiG, womit sie nicht blinden Aktionismus meint, sondern ein Austesten und Hinterfragen der Gegebenheiten sowie der eigenen Praxis. Wichtig ist für Anna-Lisa Schmalz nicht nur, was herauskommt, sondern, „dass ich zu meinen Absichten stehen kann.“ Der Mut, Fehler zu machen, erhält ihr die Handlungsfähigkeit und den langen Atem, den sie brauchen wird, um dem bestehenden Wirtschaftssystem weiter die Stirn zu bieten. Denn das ist zäh.
Allerdings hätte man in den 1950er-Jahren wohl auch kaum daran geglaubt, dass Deutschland mal von einer Bundeskanzlerin regiert werden würde. Und auch wenn Anna-Lisa Schmalz mit ihrer Wirtschaftsgemeinschaft nicht von heute auf morgen das System umstürzen wird, stellt sie damit täglich jene Wahrheiten auf die Probe, zu denen es angeblich keine Alternative gibt. Irgendwo muss man schließlich anfangen.