Wo die weiße Beete wächst Die von LandKunstLeben organisierten Kochkurse im Garten Steinhöfel werden all jene eines Besseren belehren, die zu wissen glaubten, was das Brandenburger Land an Nutzpflanzen zu bieten hat. Denn dort landen vergessen geglaubte Genüsse direkt aus dem Garten auf dem Teller.
Platons Höhlengleichnis beschreibt, wie Höhlenbewohner die blassen Schatten der Außenwelt für die Wirklichkeit halten – weil sie nichts anderes kennen. Gelingt es einem Bewohner, die Höhle zu verlassen, wird er zunächst geblendet sein von der Vielfalt, die ihn umgibt. Kehrt er in seine Höhle zurück, wird es ihm schwerfallen, sich wieder einzufügen, weil er den Alltag dort als das wahrnehmen wird, was er ist: ein trister Abklatsch vom bunten Reichtum des Lebens.
Übertragen auf die Welt der Nahrungsmittel leben die meisten von uns auch in einer Höhle. Industrie und Marketing gaukeln uns vor, dass wir die Auswahl haben. Stattdessen wurde Artenvielfalt durch ein Standardsortiment und natürliches Aroma durch Geschmacksverstärker ersetzt. Immer gleiche Zutaten werden in wechselnde Verpackungen gesteckt, Bitterstoffe aus dem Gemüse herausgezüchtet, blasses Obst mit bunten Lampen angestrahlt und künstlich Zucker zugesetzt, wo es nur geht.
Mit der Industrialisierung von Lebensmitteln ging dabei nicht nur der Zugang zu unbehandelten Zutaten verloren, sondern auch das Wissen über die Pflanzen selbst. Viele kämen gar nicht auf die Idee, dass man Blumen essen kann, dass es bis vor ein paar Jahrzehnten in Deutschland noch über 500 Apfelsorten gab oder dass manche Paprikasorten nach Ananas schmecken. Wie aber aus der Höhle der Unwissenheit herauskommen? Dafür müssen wir unsere Komfortzone verlassen und in Gefilde hinein, wo Lebensmittel noch mehr sind als die Schatten ihrer selbst.
Einer dieser Orte ist der Garten Steinhöfel, ein ehemaliger Schlossgarten im Süden Brandenburgs. Umschlossen von einer Backsteinmauer werden hier alte Gemüse- und Obstarten wieder angebaut. Klapperapfelbäume spenden dort der Rosa Emilie, dem Angeliter Tannenzapfen und der Kapstachelbeere Schatten, während nebenan die Dahlien, Löwenmäulchen und Ringelblumen blühen. Die drei Hektar große Oase wird vom Verein LandKunstLeben e.V. betrieben. 2001 wurde er von Künstlern, Gärtnerinnen und Kulturakteuren gegründet, um die Kommunikation zwischen Stadt und Land anzukurbeln und das kulturelle Leben in Brandenburg zu stärken.
Die Verantwortlichen, zu denen auch der Gärtner Arne Ihm gehört, kommen nicht nur zu Besuch ins Berliner Umland, sondern nehmen den Stadt-Land-Transfer ernst: Sie sind in die Umgebung der Gemeinde Steinhöfel gezogen und stehen seitdem sowohl mit den Ortsansässigen, als auch mit internationalen und regionalen Künstlern in einem lebendigen Austausch. Der Garten fungiert dabei als eine Art multifunktionale Pflanzen-Arche-Noah: Hier werden Feste veranstaltet und Kunstprojekte mit Bezug zur Botanik ausgestellt. Für 100 Euro kann man Mitglied im garteneigenen Club der Agronauten werden, das Gärtnern lernen und ein Jahr lang die Früchte der eigenen Arbeit ernten. Seit 2003 finden zudem von Mai bis September unter dem Namen Kochende Gärten wöchentlich Kochkurse statt.
Die Kursleiter und Kursleiterinnen sorgen dafür, dass man sich der entfremdeten Flora, die später auf dem Teller landet, umfassend annähern kann. Denn hier wird nicht nur der Kochlöffel geschwungen, sondern auch gemeinsam nach Zutaten gesucht. Mitten im Garten Steinhöfel werden die Kochwilligen begrüßt und für den Ausflug in die Artenvielfalt mit Körben ausgestattet. Die folgende Tour ist eine Mischung aus Pflanzenkunde, Gartenarbeit und Naturgenuss. Es wird geerntet, was später auf den Tellern landen soll – angeleitet von Gärtner Ihm, der begeisternd erzählt von all den Büschen, Kräutern und Bäumen und dabei über ein schier unerschöpfliches Wissen verfügt.
Mit traumwandlerischer Leichtigkeit führt er durch die Bestände. Es gibt viel zu entdecken! Ihm erklärt, dass rohe Bohnen giftig sind, lässt Gladiolen probieren und hält immer wieder an, um auf ein besonders delikates Gewächs wie den „traumhaften Freiland-Chili“ hinzuweisen. Spätestens jetzt beginnt es den Kursteilnehmern zu dämmern, dass ihre mitgebrachten Regeln nicht mehr gelten: Erdbeeren sind im Steinhöfler Garten weiß, Kartoffeln blau und das vermeintliche Unkraut ist essbar. Das Durcheinanderwirbeln des erlernten kulinarischen Koordinatensystems ist der erste Schritt raus aus der Höhle in Richtung Erkenntnis.
Wenn die Körbe mit Stauden, Blättern und Blüten gefüllt sind, beginnt der zweite Teil des Gartentages. Stracks wandert die Erntetruppe hinüber zur mobilen Kocheinheit, wo Kochprofi Gerry Kunz sie in Empfang nimmt. Der Mitgründer der Kochenden Gärten war schon früh beeindruckt vom Kochen: Fast magisch kam es ihm vor, wie seine Großmutter frische Zutaten in wunderbare Gerichte verwandelte. Seine Begeisterung dauerte an und heute lautet das Menü: Ravioli mit Brennnessel-Sauerampfer-Füllung, Mischsalat mit Blüten und „Öpfelstückli“ nach Zürcher Oberlanderart an Vanilleeis. Was sich nicht im Garten finden lässt – wie Milchprodukte, Mehl und Zucker –, hat Kunz mitgebracht. In bester Bioqualität natürlich.
Wer möchte, kann sich schon mal mit einem heimischen Wein versorgen, aber zum Duseligwerden bleibt keine Zeit, denn Küchenchef Kunz wartet schon mit der Aufgabenverteilung. In den nächsten anderthalb Stunden werden Brennnesseln gewalkt, Kräuter gehackt, Blüten geputzt, Äpfel kandiert, Nudeln gewalzt und Soßen verquirlt. Kunz steht jedem geduldig zur Seite, korrigiert Walztechniken und Zitronensaftmengen. Die Atmosphäre ist konzentriert, aber entspannt; die ersten Mägen fangen an zu knurren.
Der Tisch für das gemeinsame Essen steht schon bereit: direkt neben der Gartenküche, fast unverschämt idyllisch, unter einer Art Laube mitten im Grünen. Als sich die Gruppe für den ersten Gang zusammenfindet, wird auch die nächste Hürde auf dem Weg zur Erkenntnis mit Bravour genommen. Denn die Blumen im Salat werden nicht nur ohne Murren gegessen, sie animieren sogar Gespräche über feine Geschmacksnuancen. Und auch aus den nächsten Gängen werden die Zutaten und ihre Qualitäten einzeln herausgeschmeckt: der leicht herbe Geschmack der Nudelfüllung, die körnige Konsistenz des Teigs, die Apfelsorten mit unterschiedlichem Säuregehalt. Auch als der letzte Menürest schon lange verputzt ist, die Teller gespült und die Herdplatten blankgeschrubbt sind, hat es niemand eilig nach Hause zu kommen. Die Gruppe sitzt noch beisammen, resümiert und verabschiedet sich schließlich – die Kochrezepte in der Tasche – in die Weiten Brandenburgs.
Wer in den Kochenden Gärten dabei war, wird sich nicht mehr über die grüne Artenvielfalt wundern, sondern vielmehr über die künstlich klein gehaltene Auswahl im Supermarkt. Mit sensibilisierten Geschmacksnerven werden sie nach Obst und Gemüse Ausschau halten, das aus der Region kommt und mit dem Einkauf warten, bis die Früchte wirklich reif sind. Sie werden mit geschultem Blick Kräuter oder Pilze sammeln gehen und dabei auch die unscheinbarsten Gewächse nicht übersehen. Denn einmal zur Erkenntnis erlangt, gibt es kein Zurück mehr. Und die Erinnerung an die Höhle der falschen Versprechen wird ihnen schon bald so blass erscheinen wie Sommergemüse im Winter. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 14.05.2015