Keine Angst vor der Zucchini! Süßes und Fettiges war des Steinzeitmenschen Lieblingsspeise. Timo Schmitt von der Berliner Tafel arbeitet an der Überwindung der genetisch-sozialen Geschmacksverirrungen und bringt Kindern in seinem KIMBAmobil natürliche Lebensmittel nahe.
Der Steinzeitmensch hatte es schwer. Nicht nur musste er bei der Jagd von (möglichst fetten) Beutetieren ständig sein Leben riskieren, auch beim Zusammenklauben der vegetarischen Kost lauerten überall Gefahren. Einmal die falsche Beere, den Giftpilz oder das lähmende Kraut verzehrt, war es mit ihm zu Ende. Da half im Zweifel nur das Vortesten von kleinen Mengen der verdächtigen Fauna. War die Beere, das Kraut oder der Pilz süßlich statt bitter, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Ganze genießbar war.So hat sich die Süße als Indikator für Verträglichkeit in unser genetisches Programm eingeschrieben. Genauso wie die Vorliebe für Fette, die wie Zucker schnell Energie liefern und dem Steinzeitmenschen das Überleben sicherten. Und auch die Neigungen unserer Eltern beeinflussen uns in unserem Essverhalten. Aber sind wir deshalb gleich unfähig zu entscheiden, was wir unserem Körper zuführen?
Viele Menschen fremdeln, wenn es um natürliche Lebensmittel geht. In einer Zeit, in der „schmeckt wie gekauft“ als Kompliment durchgeht und Kindersendungen darüber aufklären müssen, dass „Stäbchenfische“ keine wildlebende Spezies ist, tut Aufklärung Not. Dieser Aufgabe hat sich Timo Schmitt von der Berliner Tafel verschrieben. Für den studierten Oecotrophologen sind Ernährungsfragen keine Lappalie, sondern essentiell. Deshalb möchte er am Kern ansetzen: beim Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen. In einem ausrangierten und umgebauten Doppeldeckerbus der Berliner Verkehrsgesellschaft, dem KIMBAmobil, bringt Schmitt ganze Schulklassen in Berührung mit natürlichen Lebensmitteln. Heute auf dem Speiseplan: Krosse (Zucchini-Karotten-) Bulette mit Kräuterquark und als Nachtisch gleich noch mal Quark, diesmal allerdings mit Obstsalat.
Es rumpelt und poltert, das Mobil schaukelt bedenklich. Zwölf Kinder drängeln sich in den engen Gängen, um ihre Jacken gegen fruchtverzierte Schürzen einzutauschen – „Die Erdbeere muss vorne sein!“ Bevor es losgeht, gibt es eine kurze Einführung zum Messer-Handling beim Zwiebelschneiden und anderen Gefahrenzonen. Dann werden zwei Gruppen gebildet und über das KIMBAmobil verteilt. Oben Obst, unten Gemüse. In den nächsten eineinhalb Stunden wird hier Aufklärung an der Basis betrieben: Wer als Kind die Scheu vor dem Selbstkochen gar nicht erst reifen lässt, muss sie sich im Erwachsenenleben nicht mühsam abtrainieren.
„Kinder kennen Kochen meist nur aus der Schmutzperspektive“, erklärt Timo Schmitt. „Das heißt, sie dürfen zu Hause maximal spülen oder den Müll rausbringen.“ Und wer jetzt glaubt, das sei nur ein Problem von Familien, in denen ausschließlich Fertignahrung auf den Tisch kommt, der hat sich mit dem Obstmesser geschnitten: Auch in Haushalten, in denen die Eltern regelmäßig mit frischen Zutaten kochen, wird der Nachwuchs selten eingebunden. Weil es meist schnell gehen soll und sich nur wenige die Zeit nehmen, den Kindern zu zeigen, wie man einen Sparschäler hält und was der mit der Gurke anstellen kann. Genau diese Erlebnisse seien aber wichtig, findet Timo Schmitt. Die Kinder sollen die Kocherfahrungen selbst machen und mit allen Sinnen zu Küchenforschern werden: Pantschen, Mantschen, Schnuppern und Probieren – alles erlaubt.
Im Erdgeschoss des Busses hängen derweil Zwiebelschwaden, oben türmen sich Fruchtberge. Die Kinder sind konzentriert, fragen nach („Warum wohnt da ein Wurm drin?“), gleichen ab („Das Messer haben wir auch“) oder weisen sich gegenseitig zurecht („Du schälst falsch rum!“). Die Begeisterung ist auf beiden Stockwerken und geschlechtsübergreifend gleich groß. „Ey, ich mach Quark!“, wird der Obstcombo von unten freudig berichtet, und die ist nicht weniger überzeugt: „Und wir dürfen sitzen und schneiden!“ Damit zwischendurch niemand gelangweilt in die Ofenröhre gucken muss, wurden die Rezepte so zusammengestellt, dass alle gleichzeitig beschäftigt sind.
Schmitt selbst durfte als kleiner Junge in der elterlichen Küche mitmischen. Von damals stammt seine Lust am Essen und dessen Zubereitung. Nach seinem Studium der Oecotrophologie hat er sich „aus ideologischen Gründen“ für einen Weg entschieden, der zwar deutlich weniger Geld bringt, als in der Produktentwicklungsabteilung eines Großkonzerns die nächste Fertigsuppe zu entwerfen, hinter dem er dafür aber voll und ganz stehen kann. Ein Praxissemester führte ihn zur Berliner Tafel. Deren Prinzip ist in vielen deutschen Städten fest verankert: Tafeln sammeln Lebensmittelspenden, um Bedürftige mit günstiger Nahrung zu versorgen und der Essensverschwendung entgegenzutreten. Das KIMBAmobil hat Timo Schmitt gleich in seinen ersten Monaten bei der Organisation mitkonzipiert; nach Ende des Praxissemesters blieb er dem Projekt erhalten, um ihm „Leben einzuhauchen“. Die Nachfrage sei von Anfang an riesig gewesen.
Seit über drei Jahren fährt Schmitt nun schon zusammen mit freiwilligen Helfern in fast allen Berliner Bezirken von Schule zu Schule. Die Lebensmittel für den Kinderkochkurs kommen von der Berliner Tafel, sind vegetarisch und größtenteils sogar aus biologischem Anbau. Jedes Kind, das mitmacht, zahlt einen obligatorischen Euro. Der Obolus kann das Angebot zwar nicht finanzieren, verleiht ihm aber einen gewissen Wert. So wird der Eindruck vermieden, dass es um Almosen gehe, für die sich die teilnehmenden Kinder schämen könnten.
Im Bus wird es jetzt aufregend: In drei Pfannen blubbert Fett – Biorapsöl natürlich –, und die ersten Buletten werden vorsichtig hineingelegt. Oben wird die Saftmaschine angeworfen. Mit einer Mischung aus Respekt und wohligem Schauer werfen die Kinder Obst und vereinzelte Karotten in den Schlund. Die Maschine röhrt und rattert. Jede Frucht und jedes Gemüse klingt anders. Erlebnisspielplatz KIMBA-Küche.
Schmitts Ziel ist es nicht, die Lehrkräfte glücklich zu machen oder ein Stoffpensum zu erfüllen. Geduldig beantworten er und seine Helfer alle Fragen und erklären einfache Zusammenhänge: Warum die Zwiebeln in den Augen brennen, zum Beispiel, und ob die meisten Vitamine wirklich direkt unter der Schale sitzen. Manches kennen die Schüler schon aus dem Ernährungskundeunterricht. In voller Kochaktion können sie die Theorie aber direkt abgleichen, noch während sie sich Zwiebelsaft von den Fingern lecken oder verschiedene Obstschalen begutachten. So bleibt das alles wesentlich besser hängen, im Kindskopf.
Zum Schluss wird natürlich noch gemeinsam gegessen, und fast alle Kinder sind beeindruckt, was sie da mit den eigenen Händen hervorgebracht haben. Ein Mädchen bemerkt überrascht: „Schmeckt gut! Obwohl ich gar nicht kochen kann!“ Nur einer der Jungs ist skeptisch und stochert etwas angewidert in seiner Gemüsebulette herum. Aber kein Grund zur Panik, das Umkrempeln unserer erlernten und genetisch bedingten Vorlieben dauert eben manchmal etwas länger. Spätestens beim Quark mit Obstsalat beginnt das Zucchini-Trauma bereits wieder zu verblassen. Vielleicht wurde ja hier und heute der Grundstein gelegt für ein Leben ohne Scheu vor Gemüse, Obst und Co.
FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit am 13.06.2013